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Max Frisch hat 1989 resümiert: "Ich lehne den Kapitalismus als System ganz eindeutig ab. Aber in sich hat der Kapitalismus eine Kraft, weil er mit Instinkten arbeitet, mit animalischen Instinkten, mit der Sucht zu beherrschen, mit der Sucht, der Stärkere zu sein. (...) Auch wenn nie Menschen mit Menschen gerecht sein können, soll die Utopie wie ein Magnet wirken, der die Nadel richtet für die Mündigen." Sollen also angesichts der in der Gegenwart doch sehr eindeutigen und unverrückbar scheinenden Machtverhältnisse zwischen Reichtum und Armut die in Österreich für das Parlament kandidierenden Parteien an der Wahlurne gewählt werden?

Die privilegierten Systemeliten mit ihren korrumpierten Schichten lenken mit periodisch veranstalteten "demokratischen Wahlkämpfen" in immer neuen, sich aber doch wiederholenden Varianten von der Realität der Machtverhältnisse ab. Dabei steht ihnen ein riesiger, von ihnen beherrschter Manipulationsapparat zur Verfügung. Dennoch hat Lenin die Auffassung vertreten, dass die Beteiligung an Parlamentswahlen und am Kampf auf der Parlamentstribüne unbedingte Pflicht sei, es aber abgrundtief beschränkt sei zu glauben, das System könne durch Wahlen untergraben oder gestürzt werden.

Der in Kolumbien tätig gewesene Soziologe und katholische Priester Camilo Torres Restrepo, der von den Vatikan-Ideologen als "marxistischer Extremist" eingeschätzt wird, hat 1965 eine Teilnahme an Wahlen in seiner Heimat nur dann für sinnvoll erachtet, wenn der Wahlkampf zur Vereinigung und nicht zur Zersplitterung der Kräfte des Widerstandes gegen das herrschende System beiträgt. "Aber alles, was das Volk trennt", so Torres Restrepo, "ist notwendigerweise gegen seine Interessen."

Alle in diesen Wochen für den Nationalrat werbenden Parteien und Bewegungen machen mit ihren Programmen vor, ihre Wahl würde zu einer Veränderung der Verhältnisse führen. Die Ecksteine der Macht werden fürsorglich nicht angesprochen. Die sich selbst als Avantgarde der Europartei Die Linke verstehende KPÖ Plus versucht den Menschen vorzugaukeln, es sei mit ihren seit einigen Jahren besonders vom deutschen Immobilienspezialisten Gregor Gysi angestimmten Transformationsballaden bei Aufrechterhaltung der bestehenden Eigentums- bzw. Machtverhältnisse möglich, die Strukturen des Kapitalismus, zumal jene in Europa, zu humanisieren. Ihre Galionsfigur Alexis Tsipras mit seiner Syriza ist inzwischen aus dem Fokus des in der Linken traditionellen Personenkultes in den Hintergrund getreten, weil die verhängnisvollen Ergebnisse seiner ebenso schillernden wie unterwürfigen Machterhaltungspolitik von der internationalen Presse wie der NZZ oder der FAZ angemessen gelobt werden.

"Holen Sie sich, was Ihnen zusteht" – an wen ist diese Aufforderung der SPÖ adressiert? An die Bezieher der "Mindestsicherung" offenkundig nicht, die müssen vor Kürzungen zittern. Das Holen praktizieren die Bösewichte Österreichs so wie jene der ganzen Welt ohnehin, und die Sozialdemokratie lässt zu deren Schutz massiv nach innen und außen aufrüsten. Unter Missachtung aller staatsvertraglichen und neutralitätspolitischen Intentionen stellt die SPÖ gemeinsam mit der rechtskonservativen Kurz-Bewegung (vormals ÖVP) und mit dem Wohlwollen der Neos ebenso wie der nazistisch wie rassistisch verseuchten FPÖ das auf Kosten der österreichischen Bevölkerung modernst aus- und aufgerüstete Bundesheer den Eliten der Kriege führenden EU-Hauptländer an die Seite.

Wir leben in einer weltweiten Krisenzeit, eigentlich am Abgrund. Die Dialektik von Reichtum und Armut ist überall gegenwärtig, Ausbeutung und Unterdrückung, Sklavenarbeit, Kinderelend, offene wie versteckte Kriege, das Ertränken von Flüchtlingen im Mittelmeer gelten als immer wiederkehrendes menschliches Schicksal, das nicht zu ändern ist. Die Systemeliten der EU und der Republik Österreich sind Profiteure der Armut. Alle kandidierenden Parteien üben sich mehr oder weniger in Scheinopposition zum System mit seinen Strukturen, wobei sie mit aufgeblasenen Einzelfragen hausieren.

"Sei ein Mann: Wähl eine Frau" – die Grünen in Deutschland werden das anders sehen. Die Spitzenwissenschafterin Renée Schroeder spricht das so wichtige Problem der Genmanipulation für die Zukunft der Menschheit an und will darüber mit den Abgeordneten reden. Was für eine ehrenwerte Illusion! Denn es bleibt in der Realität nicht mehr als eine moralisierende Attitüde übrig, weil die Profitgier der von ihren Aktionären angetriebenen Medizin- und Pharmakonzerne die Entwicklung bestimmen wird.

Aus solchen aus Platzgründen nicht weiter zu argumentierenden Motiven werde ich, der ich vor Jahren selbst zum Nationalrat kandidiert habe, diesmal nicht zur Wahl für den Nationalrat gehen. Dieses Fernbleiben verstehe ich nicht als passives, meinem fortgeschrittenen Alter geschuldetes Verhalten, sondern vielmehr als einen aktiven Protest. "Mir scheint", so denke ich mit Camilo Torres Restrepo, "die Zeit und das Geld, die nötig sind, um Listen aufzustellen, über Parteiprogramme zu beraten und Führer zu wählen, würden sinnvoller verwendet, wenn man daranginge, die Arbeiterklasse von unten her zu organisieren und zu einen." (Gerhard Oberkofler, 29.9.2017)