Friedensprozesse, in denen Frauen keine Rolle spielen, enden oft wieder im Krieg, sagt Leymah Gbowee.

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Liberias Präsidentin Ellen Johnson Sirleaf vor der UN-Generalversammlung Mitte September. Durch ihren Wahlsieg 2005 "konnten Frauen und Mädchen in jedem Alter nun sehen, welche Möglichkeiten sie im Leben haben", sagt Leymah Gbowee.

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Liberias ehemaliger Staatschef Charles Taylor wurde von einem UN-Sondertribunal in Den Haag wegen der Anstiftung und Beihilfe zu tausendfachem Mord, Folterungen und Vergewaltigungen zu 50 Jahren Haft verurteilt. Das findet Gbowee nur teilweise gerecht.

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Für ihr gewaltfreies Engagement für die Stärkung der Rolle von Frauen, das auch dazu beigetragen hat, den blutigen Bürgerkrieg in Liberia zu beenden, erhielt die politische Aktivistin Leymah Gbowee 2011 den Friedensnobelpreis. Als Herausforderungen in Liberia bezeichnet sie im STANDARD-Interview derzeit vor allem das Bildungs- und Gesundheitssystem. Sie fordert, dass jungen Menschen in afrikanischen Ländern echte Perspektiven geboten werden – und die EU und die USA auf die betroffenen Regierungen stärkeren Druck ausüben. Die Frauenrechtlerin spricht außerdem über die Strategien zur Beendigung des Bürgerkriegs 2003, ihre nur knappe Entscheidung für den friedlichen Weg und warum ein Sexstreik in "unserer übersexualisierten Welt" erfolgreich sein kann.

STANDARD: Sechs Jahre sind vergangenen, seit Sie den Friedensnobelpreis erhalten haben. Was hat sich in Liberia seither verändert?

Gbowee: Es gibt nun Hoffnung für junge Frauen und Männer, die sich für soziale Gerechtigkeit und Veränderung einsetzen. Es hat außerdem nicht nur liberianische, sondern afrikanische Graswurzelbewegungen von Frauen weltweit bekannt gemacht. Die Menschen schenken der Arbeit, die Frauen in diesem Zusammenhang leisten, mehr Aufmerksamkeit. Ich persönlich spreche jetzt an Orten, an denen das früher niemals möglich war – und die Menschen hören zu. Vor einigen Monaten habe ich Kanadas Premierminister Justin Trudeau getroffen – danach gab er bekannt, dass sein Land 150 Millionen Dollar in Graswurzelbewegungen von Frauen investieren würde. Es waren sechs Jahre harter Arbeit, aber auch sechs Jahre mit vielen Erfolgen.

STANDARD: Was sind die derzeit größten Herausforderungen in Liberia?

Gbowee: Das Bildungs- und das Gesundheitssystem. Auf der Intensivstation für Neugeborene des nationalen Krankenhauses gibt es zum Beispiel nur drei Brutkästen. Wenn also mehr als drei Babys einen Brutkasten benötigen, müssen sie entscheiden, welches davon eher überlebt.

STANDARD: Mehr als eine Million Menschen leben auch in extremer Armut – sehen Sie Europa als Möglichkeit für ein neues Leben?

Gbowee: In Liberia will man eher in die USA als nach Europa, und wir haben nur vier Millionen Einwohner, es gibt also keine große Anzahl an Liberianern, die die gefährliche Reise über das Mittelmeer auf sich nehmen. Aber in anderen Teilen Afrikas gibt es vor allem viele junge Menschen, die das wollen, da viele Regierungen scheitern, die Bedürfnisse junger Menschen anzusprechen. Bis wir eine Generalüberholung des Systems haben, in dem junge Menschen eine Zukunft über ihre derzeitige Situation hinaus innerhalb Afrikas sehen, wird es weiterhin Migration geben.

STANDARD: Was kann Europa tun?

Gbowee: Die EU und auch die USA müssen hier Druck auf die betroffenen Regierungen ausüben. Außerdem beuten vielen Regierungen die Ressourcen ihrer Länder aus – sie enden dann oft in europäischen Banken. Die EU müsste dieses Geld überprüfen und zurückschicken. Wenn die Staatschefs weiterhin von der Bevölkerung stehlen und wissen, dass das Gestohlene in Europa sicher ist, werden sie damit nicht aufhören. Und wenn es zu gewaltsamen Umstürzen kommt, wie etwa in Libyen, müssen Sozialprogramme geschaffen werden, zur Demilitarisierung – und für die Hoffnung junger Menschen.

STANDARD: Haben Sie den Eindruck, dass Afrika oft über einen Kamm geschoren und als ein Ganzes gesehen wird, vor allem wenn es um Flüchtlinge geht?

Gbowee: Auf jeden Fall, man betrachtet den Kontinent als ein Land und spricht von "den Afrikanern". Es gibt hier viele Missverständnisse. Wenn über Migranten gesprochen wird, wird etwa kaum bedacht, wo sie herkommen, wie die politische Situation in diesen Ländern ist. Viele sind aus Nordafrika – wo die Situation seit Jahren unsicher, instabil und militarisiert ist. Vor zehn Jahren war das anders.

STANDARD: Sie und Ihre Bewegung haben dazu beigetragen, den jahrelangen Bürgerkrieg in Liberia zu beenden. Welche Strategien haben Sie angewandt?

Gbowee: Wir nutzten die Kriegsmüdigkeit – die Menschen waren vom Krieg erschöpft. Wir sind außerdem über ethnische, religiöse, soziale und ökonomischen Grenzen hinweg zusammengekommen. Als eine Gruppe, als Menschen, die nach Frieden strebten.

STANDARD: Was natürlich immer in diesem Zusammenhang genannt wird …

Gbowee: ... ist der Sexstreik.

STANDARD: Genau. Warum haben Sie diese Strategie gewählt?

Gbowee: In der heutigen Welt ist alles übersexualisiert. Es war eigentlich eine Strategie, um die Männer in unserer Gesellschaft zu mobilisieren, mit männlichen Entscheidungsträgern innerhalb der Kriegsparteien zu sprechen. Aber es wurde zu einer riesigen Medientaktik – als wir es ankündigten, war es plötzlich überall in den Nachrichten.

STANDARD: Wie reagieren Sie, wenn die Strategie belächelt oder nicht ernst genommen wird?

Gbowee: In unserer übersexualisierten Welt erweist es sich als sehr effektive Strategie. In Togo haben Frauen vor ein paar Jahren zum Beispiel gegen eine Wahlreform protestiert, sie kampagnisierten zuvor jahrelang dafür, und die Medien haben darüber nicht berichtet – bis zu dem Tag, als sie zum Sexstreik aufriefen, dann sprangen alle Medien, auch internationale, auf.

STANDARD: Wie schwierig war es 2003, die Kriegsparteien zu Verhandlungen zu bewegen?

Gbowee: Es war sehr schwer, wir lebten quasi in einem Polizeistaat. Nur zu demonstrieren war schon gefährlich. Wir mussten unsere Botschaften außerdem vorsichtig formulieren, denn in unserer Bewegung befanden sich Unterstützer verschiedener Konfliktparteien und verschiedener ethnischer Zugehörigkeiten. Wir mussten auf eine inklusive, nicht entzweiende Sprache achten. Und alle hatten so viel Angst vor Präsident Charles Taylor, dass uns niemand finanziell unterstützen wollte. Wir mussten uns mit dem wenigen, das wir hatten, täglich durchkämpfen.

STANDARD: Sie reisten dann auch zu den Verhandlungen nach Ghana – und ließen die Parteien nicht gehen, bis sie Frieden schlossen.

Gbowee: Wut, Frustration und Hoffnungslosigkeit kamen hier zusammen. Ich hatte an diesem Tag in den Nachrichten gelesen, dass zwei Jungen von einer Rakete getroffen worden waren. Sie standen außerhalb ihres Hauses, putzten ihre Zähne und wurden getötet. Sie waren im Alter meiner beiden Söhne. Nach diesem Moment verstand ich, wie man auf die Seite des Bösen gezogen wird. Wir haben alle zwei Seiten, die heldenhafte und die böse. Manchmal ist es eine Entscheidung, die innerhalb einer Millisekunde fällt. Das eine, was Helden und Bösewichte gemeinsam haben, ist Wut. Ich war sehr wütend – wenn ich damals ein Maschinengewehr gehabt hätte, hätte ich vielleicht jemanden getötet. Aber weil das nicht der Fall war, musste ich einen Schritt zurückgehen, tief einatmen und einen anderen Weg finden. Ich forderte dann mehr Frauen auf, sich dem Protest anzuschließen, und teilte die Idee, die Verhandler quasi als Geiseln zu halten – und bekam Zustimmung.

STANDARD: Wenn Sie jetzt zurückblicken, wäre Frieden ohne Frauen möglich gewesen?

Gbowee: Es gibt in vielen Ländern Friedensprozesse ohne Frauen, aber oft endet es danach wieder im Krieg – wie zum Beispiel in Mosambik.

STANDARD: Hatte auch die Wahl einer Frau, Ellen Johnson Sirleaf, zur Präsidentin auf den Frieden Einfluss? Und auf die Frauen in Liberia insgesamt?

Gbowee: Es veränderte viel, vor allem in der Wahrnehmung, dass Frauen führen können. Meine Tochter war damals in der zweiten Klasse, und in ihrer Schule wurden Klassensprecher gewählt – elf von zwölf waren Mädchen. Frauen und Mädchen in jedem Alter konnten durch ihre Wahl nun sehen, welche Möglichkeiten sie im Leben haben.

STANDARD: Präsidentin Sirleaf bezeichnet sich selbst nicht als Feministin – was sagen Sie dazu?

Gbowee: Sie hat sich selbst oder ihre Politik nie als feministisch positioniert. Ich bin Feministin ohne Wenn und Aber. Ich bin Aktivistin, Sirleaf ist Politikerin. Sie glaubt, Feminismus ist extrem. Wenn das so ist, bin ich Extremistin – mit Freude jeden Tag.

STANDARD: Charles Taylor wurde von einem UN-Sondertribunal in Den Haag zu 50 Jahren Haft verurteilt. Ist der Gerechtigkeit genüge getan?

Gbowee: Zu 50 Prozent vielleicht. Es sollte Reparationszahlungen geben, Taylors Eigentum sollte versteigert werden und der Erlös den Opfern des Krieges in Sierra Leone (die von Taylor unterstützte "Revolutionary United Front" verübte während des Bürgerkriegs in Sierra Leone Verbrechen an der Zivilbevölkerung, Anm.) zukommen. Taylor hat im Gefängnis in Großbritannien drei Mahlzeiten am Tag, Zugang zu medizinischer Versorgung – natürlich, sonst wäre es eine Verletzung der Menschenrechte. Aber das ist weitaus mehr, als viele in Krankenhäusern in Sierra Leone haben.

STANDARD: Hatte seine Verurteilung Auswirkungen in Liberia?

Gbowee: Sie hatte Auswirkungen auf den ganzen Kontinent. Sie sendete ein Signal an andere Länder und Staatschefs, dass die Welt dir nicht erlaubt, dein Volk so zu behandeln.

STANDARD: Wie optimistisch oder pessimistisch sehen Sie den kommenden Präsidentenwahlen im Oktober entgegen?

Gbowee: Ich bin keine Pessimistin, sonst könnte ich meine Arbeit nicht machen. Es wird vereinzelt Gewalt in einigen Orten geben, aber ich glaube nicht, dass es Krieg geben wird.

STANDARD: Können Sie sich eine Zukunft in der Politik vorstellen?

Gbowee: Ja, ich schließe das nicht aus. Vielleicht in ein paar Jahren. (Noura Maan, 30.9.2017)