Neues Medium, neue Blickwinkel: künstlerische Experimente in 3D.


Foto: FH St. Pölten

St. Pölten – Ein Mann und eine Frau treten auf. Die beiden werden in dieser Szene von wenigen Lichtpunkten malerisch herausgearbeitet. Ein Gespräch nimmt seinen Lauf. Wie soll sich ein Mann gegenüber einer Frau verhalten? Ist sie eher einem schwachen Mann oder einem Helden zugeneigt?

Der Dialog ist inspiriert von Albert Camus' Roman Der Fall, in dem der erfolgreiche Rechtsanwalt Johannes Clamans über sein Leben und sein Verhältnis zu Frauen reflektiert. Sein Leben ist aus den Fugen geraten, nachdem er den Selbstmord einer fremden Frau auf einer Pariser Brücke nicht verhindert hat.

Die Darbietung der Schauspieler des Wiener Privatkonservatoriums Open Acting Academy findet allerdings nicht in einem gewohnten Theatersetting statt. Davon zeugen etwa vier Köpfe aus Glas auf der Bühne, in denen spezielle Kameras ihr Werk verrichten. Hier wird der literarische Stoff für eine neue Form des Kunsterlebnisses aufbereitet – für Zuschauer, die Virtual-Reality-Brillen tragen.

Im Forschungs- und Kunstprojekt "Wearable Theatre. The Art of Immersive Storytelling", das im Rahmen des Programms zur Entwicklung und Erschließung der Künste (PEEK) durch den Wissenschaftsfonds FWF unterstützt wird, erprobt Markus Wintersberger vom Department Medien und Digitale Technologien der FH St. Pölten mit Kollegen und Partnern das Potenzial von Virtual Reality (VR) für künstlerische Ausdrucksformen. Material für die Experimente geben atmosphärische Szenen aus Werken von Fjodor Dostojewski, Albert Camus und Max Frisch.

Ästhetische Variable

Eine Reihe künstlerischer und technischer Aspekte machen die Aufbereitung des Schauspiels für den dreidimensionalen Raum, in dem sich die VR-Brillenträger umsehen können, zu einer komplexen Angelegenheit. In ihren Experimenten widmen sich Wintersberger und Kollegen einer ganzen Reihe von "ästhetischen Variablen": "Eine wichtige Frage ist, wie ich Figur und Charakter in einer 360-Grad-Aufnahme herausarbeiten und inhaltlich vermitteln kann", nennt Wintersberger ein Beispiel. "Die Schauspieler müssen sehr expressiv arbeiten, um den Weitwinkelaufnahmen gerecht zu werden." Zudem können sie sich nicht mehr aus der Szene "herausschleichen", sondern sind in einer 360-Grad-Aufnahme immer präsent.

Die Regie muss etwa Bedacht darauf legen, wie sie die Aufmerksamkeit des Nutzers, der seine Perspektive frei wählen kann, leitet. Wintersberger: "Aspekte wie Licht, Ton, Nähe oder Distanz zu den Schauspielern sind dabei relevant. Jedes Element gewinnt neue Bedeutung." Dennoch müsse man auch darauf achten, nicht alles vorzugeben und Freiheit für Entdeckungen zu lassen. Die Glasköpfe brechen den Blick auf die Wirklichkeit des Raumes und schaffen ein neues Verhältnis von Beobachter und wahrgenommener Realität.

In der Nachbearbeitung der Aufnahmen müssen die Kameras zu einer 360-Grad-Sphäre "zusammengerechnet" werden, die dann weiterbearbeitet werden kann. Bei der Übersetzung in ein interaktives Szenario müsse man sich Gedanken über Übergänge und – optional vom Nutzer gesteuerte – Wechsel der Kamerapositionen machen, so Wintersberger.

In dem Projekt soll versucht werden, eine dem neuen Medium inhärente, künstlerische Logik zu finden und mehr über Regeln und Grenzen der Immersion, der Illusionsmächtigkeit von Virtual Reality, herauszufinden. "Wir untersuchen, wie stark die Verbindung von Kunstwerk und Betrachter sein kann", sagt Wintersberger. "Lösen sich die Grenzen auf und begreift man sich selbst als Teil des Kunstwerks, in dem man sich befindet?" Die Ergebnisse der künstlerischen Experimente, die im Rahmen des Projekts stattfinden, sollen letztendlich auch in "Showcases" entsprechend aufbereitet öffentlich zugänglich gemacht werden. (Alois Pumhösel, 1.10.2017)