Holzinger (Bild) und Heilborn stellten Unvergessliches vor.

Radovan Dranga

Graz – Die Göttinnen der griechischen Mythologie waren den Herren des patriarchalen Olymp durchaus ebenbürtig, oft auch überlegen. Artemis etwa, die wilde Zwillingsschwester des Apoll, galt als grausame Göttin der Jagd und ebenso als strenge Schirmherrin von Frauen und deren Kindern. Ihr hätte die Wienerin Florentina Holzinger ihren neuen Wurf Apollon Musagète widmen können, den der Steirische Herbst gerade im Katakomberl des Doms im Berg präsentiert hat.

Doch die Choreografin hat anderes im Sinn. Der Artemis wurden einst Stiere geopfert, und ein Stier steht auch im Zentrum von Holzingers Stück – in Form eines Rodeo-Roboters. Die aufs Bocken spezialisierte Maschine soll offenbar die komplexe Figur des Apollon repräsentieren. Holziger und ihre fünf Mitstreiterinnen besiegen das Gerät natürlich. Und zwar in Reaktion auf George Balanchines Ballettklassiker Apollon Musagète von 1928.

Ballett ist bis heute männlich

Es scheint ein bisserl spät, sich nach 90 Jahren – "We can destroy Balanchine!" – an einem Stück der "Ballet is woman"-Tanzlegende abzuarbeiten. Doch Ballett wird mit wenigen Ausnahmen bis heute von Herrenpartien dominiert. Diese Vorherrschaft entspricht jener des Musenchefs Apoll, der bei Balanchine mit Terpsichore, Kalliope und Polyhymnia zum Parnass tanzt. Holzinger und ihre Tänzerinnen, darunter Renée Copraij – vor 20 Jahren eine der "Musen" Jan Fabres -, nehmen Großes ins Visier und suchen einen unvergesslichen Abend zu bereiten.

Den Geheimnissen von Vergessen und Erinnern geht übrigens die schwedische Choreografin Gunilla Heilborn in The Wonderful and the Ordinary mit ironischer Raffinesse auf den Grund. Die Performance wurde im Orpheum als Kooperation mit dem Theater im Bahnhof (TiB) uraufgeführt: ruhig in der Form, aber heftig im Inhalt. Nüchterne bis melancholische Szenen aus kleinen Monologen, poetischen Videos und ein wenig Tanz erinnern daran, wie knallhart das Gedächtnis selektiert und wie relativ alles Erinnerte ist. Holzinger hingegen klopft sich einen Nagel durchs Nasenloch. Diesen Gag hat sie von einer Electric Sideshow übernommen, deren Mitorganisatorin Evelyn Frantti in der apollinischen Balanchine-Zerstörung die wilde Artemis spielt.

Auweh, da tröpfelt Blut

Die Berlinerin spießt Nadeln durch ihre Haut und tackert sich Spielkarten auf den tätowierten Leib. Auweh, da tröpfelt Blut. Holzinger hat auch eine Muse, die eine Urin- und Stuhlprobe vorführt und mit Heilborn dem Wunderbaren zugeordnet werden könnte. Doch das allzu Normale an Apollon Musagète ist der Versuch, möglichst keine Gewöhnlichkeiten aufkommen zu lassen.

Bei Heilborn behauptet TiB-Mitglied Pia Hierzegger, sie habe nur schlechte Erinnerungen an Partys und lasse weder Horror- noch Kriegsbilder in ihren Kopf. Daran schließt das Sextett von Apollon Musagète an. Mit Freude am Grindigen produziert es eine schlechte Erinnerung nach der anderen, was aber am Ende weniger originell ist als Heilborns Liste hundehaltender Kulturgrößen und der Namen ihrer Lieblinge, die daran erinnert, dass Sigmund Freuds Chow-Chow Jofi hieß. (Helmut Ploebst, 2.10.2017)