Gedenken an die Opfer der Anschläge in Toulouse im März 2012.

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Es ist ohnehin ein heikler Montag für Frankreich, und nach dem Verlauf des vorangegangenen Sonntags ist er noch einmal heikler geworden. Nur einen Tag vor dem Prozess zu einem Anschlag von 2012, als in Toulouse drei Soldaten und dann vor einer jüdischen Schule ein Familienvater und drei Kinder getötet worden waren, gab es in Marseille erneut Terroralarm. Ein mit einem Messer bewaffneter Täter stach am Hauptbahnhof der Stadt auf Passanten ein. Mindestens zwei Menschen wurden getötet, der Täter wurde von Soldaten erschossen. Er soll bei der Tat "Allahu akbar" gerufen haben, man ging von islamistischen Tathintergründen aus.

Was heute manchmal mit trauriger Gewöhnung gesehen wird, war 2012 für Frankreich noch ein neues Phänomen: Das Land stand nach der Tat unter Schock und glaubte zunächst an eine Einzeltat. Schnell aber geriet die Familie des Täters Mohammed Merah, der beim Anschlag getötet worden war, ins Visier der Ermittler. Vor allem sein ältester Bruder Abdelkader war dem Geheimdienst als Islamist bekannt gewesen. Er sitzt nun ab Montag auf der Anklagebank eines Pariser Geschworenengerichts. An seiner Seite findet sich Fettah Malki, der Material für die Tat besorgt haben soll. Der einen Monat dauernde Prozess ist der Auftakt zur auch politischen Aufarbeitung der Terrorwelle, die Frankreich seit 2012 heimsucht – bis hin zu den Anschlägen auf Charlie Hebdo, das Bataclan-Lokal und die Promenade von Nizza. Er zeigt noch vor seinem Beginn auf, wie viel sich in Frankreich in diesen fünf Jahren verändert hat.

"Ben Laden"

Mohammed Merah nahmen die Franzosen in ersten Videoausschnitten als westlich gekleideten Autonarren mit Kurzhaarschnitt und breitem Lachen wahr. "Un fou" (ein Verrückter), sagten viele; die Medien sprachen von der Tat eines Schizophrenen. Bald aber erwies sich, dass der Amokschütze einem "klaren, bewussten, ideologischen und politischen Projekt" folgte, wie es das Wochenmagazin L'Express formuliert.

Hauptdrahtzieher war Mohammeds älterer Bruder Abdelkader. Er soll das bei den Taten verwendete Motorrad gestohlen und als spiritueller Jihad-Mentor gewirkt haben. In seinem Wohnviertel "Ben Laden" genannt, suchte Abdelkader seine ganze Familie in den Jihad zu ziehen. Die Schwester Aïcha und der Bruder Abdelghani weigerten sich; Letzterer mobilisiert heute landesweit gegen Radikalislamisten. Die Übrigen machten wie Mohammed mit.

Abdelkader Merah, wie Mohammed in alltäglicher Familiengewalt und Sozialheimen aufgewachsen und bald in die Kriminalität abgeglitten, fand im Jihad einen Blitzableiter für seine Abscheu gegen Frankreich und seinen Hass auf die Juden. Davon führt zweifellos eine direkte Linie zu der Ermordung der Schulkinder unter den sieben Merah-Opfern.

Die Staatsanwaltschaft hat den Antisemitismus von Abdelkader Merah als erschwerenden Umstand in die Anklageschrift aufgenommen. Er schwebt auch unausgesprochen über dem Prozess. Die Feministin Elisabeth Badinter hat den Medien und Politikern vergangene Woche vorgeworfen, sie unterschlügen aus gesellschaftspolitischen Rücksichten, dass der heutige Antisemitismus in Frankreich das Werk von Islamisten, kaum mehr von Rechtsextremen sei.

Mehrere Gewalttaten haben die Ängste der 600.000 französischen Juden – ihrer größten Gemeinschaft in Europa – in diesem Jahr wieder bestärkt. In Toulouse hat die jüdische Schule Ozar Hatorah den Sicherheitsdienst seit 2012 verstärkt und die ohnehin schon eindrücklichen Umfassungsmauern erhöht. Aus der Stadt sind seit dem Merah-Attentat nach offiziellen Zahlen 225 Familien nach Israel ausgewandert. (Stefan Brändle aus Paris, 2.10.2017)