Bild nicht mehr verfügbar.

Die von der Zentralregierung entsandte paramilitärische Polizeieinheit Guardia Civil und die Nationalpolizei griffen teilweise hart durch.

Foto: AP/Manu Fernandez

"Sie haben auf alles eingeschlagen, auf alte Leute, junge Leute, Frauen ...", sagt Miguel Vinaber. Der 73-jährige Rentner ist noch immer geschockt. Er ist seit sieben Uhr in der Früh in der Schule Mediterrània im alten Fischerviertel Barceloneta in der katalanischen Hauptstadt Barcelona. "Punkt neun Uhr, als das Wahllokal öffnete, fuhren rund 20 Mannschaftswagen vor", sagt Vinaber, der mit seiner 48-jährigen Tochter Araceli gekommen ist, um am Referendum für die Unabhängigkeit Kataloniens teilzunehmen. Die Polizei wollte genau diese Abstimmung verhindern, denn das Verfassungsgericht in Madrid hat das Referendum auf Drängen der Zentralregierung des konservativen Premiers Mariano Rajoy verboten. Der Chef des Partido Popular verkündete seither, alles zu tun, um das Referendum zu stoppen.

"Es war wie zu Zeiten der Franco-Diktatur", sagt der Alte. Dolores Hernández steht dabei und zückt ihr Handy. Sie zeigt ein Video nach dem anderen. Die Beamten drängeln, knüppeln, treten, bis sie schlussendlich in die Schule eindringen können. Dort beschlagnahmen sie vier der insgesamt sechs Urnen. Die restlichen beiden konnten von den Wahlhelfern rechtzeitig versteckt werden.

Verbotene Gummigeschoße

Auch in anderen katalanischen Städten kam es zu heftigen Polizeieinsätzen. Mancherorts wurden sogar Gummigeschoße angewandt – obwohl die in Katalonien seit 2014 verboten sind, nachdem eine junge Frau bei einer Demonstration ein Auge verloren hat. In ganz Katalonien waren es bei Redaktionsschluss 844 Verletzte, davon 33 Einsatzkräfte.

"Die stürmten, als stünden sie unter Drogen", erklärt Araceli Vinaber. Die 48-jährige Sekretärin berichtet, wie die Autonomiepolizei versuchte, sich zwischen Wähler und spanische Nationalpolizei zu stellen, und dabei selbst Knüppel abbekam. Vinaber hat bereits im Vorfeld per Briefwahl gewählt. Sie lebt in Hamburg und arbeitet dort seit zehn Jahren als Sekretärin. Auf Heimaturlaub hat sie ihren Vater begleitet. "Ich habe so etwas noch nie erlebt", sagt sie.

Das ganze Wochenende hatten Eltern die Schule hier in Barceloneta – wie auch anderswo – besetzt, um zu verhindern, dass die Polizei sie versiegelt. Die Einheiten der Nationalpolizei und der Guardia Civil, die für die Einsätze verantwortlich zeichnen, wurden in den vergangenen Tagen eigens nach Katalonien verlegt. Sie sind unweit der Barceloneta im Chemiehafen in zwei Kreuzfahrtschiffen untergebracht. "Sie müssen nur aus dem Hafen und zweimal abbiegen, schon sind sie hier", erklärt ein Rentner, warum es die Schule hier an der Uferpromenade wohl als Erste traf.

Mittlerweile stehen die beiden verbliebenen Urnen auf einem Tisch. Sie sind aus weißem Plastik, haben einen schwarzen Deckel und sind mit rotem Kabelbinder verschlossen. Auf dem Stimmzettel gilt es "Ja" oder "Nein" zu einer unabhängigen Republik Katalonien anzukreuzen. Hinter den Urnen sitzen jeweils ein Wahlleiter und zwei Beisitzer.

Gestörte Datenverbindungen

Rund tausend Menschen stehen in einer ewig langen Schlange geduldig an. Es geht langsam vorwärts. Es ist heiß und stickig auf dem Flur der Schule. "Es herrscht ein Cyberkrieg, wir haben immer wieder Aussetzer, wenn wir auf die Datenbanken mit dem Wählerregister zugreifen", erklärt der junge Verantwortliche für die beiden Schulen in der Barceloneta, in denen gewählt werden kann. Um seinen Hals trägt er ein Schild, das ihn als Vertreter der Autonomieverwaltung ausweist. Doch seinen Namen will er lieber nicht gedruckt sehen. Die Staatsanwaltschaft hat angekündigt, alle Wahlhelfer strafrechtlich zu verfolgen – wie auch mehrere Regierungsmitglieder und über 700 Bürgermeister, die das Referendum unterstützen.

"Ich habe noch nie so lange Schlangen gesehen, bei keiner Parlamentswahl oder Autonomiewahl", sagt einer derer, die anstehen. Insgesamt öffneten 73 Prozent der 3215 Wahllokale, erklärte der Sprecher der katalanischen Regierung. Der katalanische Autonomiepräsident Carles Puigdemont sprach von einem "unverantwortlichen, irrationalen und völlig maßlosen Einsatz der Gewalt". Er selbst musste im letzten Augenblick das Wahllokal wechseln, nachdem jenes in seinem Stadtteil von der paramilitärischen Guardia Civil besetzt worden war. Vizepräsident Oriol Junqueras wurde von Feuerwehrleuten eskortiert, die ihn vor der Polizei schützen sollten. Wie es am Tag nach dem Referendum weitergehen werde, darüber schwiegen sich die beiden aus.

"Es hat kein Referendum gegeben", antwortete ihm aus Madrid die stellvertretende Ministerpräsidentin Soraya Sanz de Santamaría. Die Polizeieinsätze seien "verhältnismäßig" gewesen. Die Regierung des konservativen Partido Popular (PP) habe wie immer "die Freiheiten" verteidigt. Der Generalsekretär der sozialistischen PSOE, Pedro Sánchez, der das repressive Vorgehen der Regierung im Vorfeld der Abstimmung verteidigte, schwieg bis zum Nachmittag. Erst dann sprach er von einem "traurigen Tag" und forderte "Gelassenheit und Dialog".

Fußballmatch ohne Publikum

Die einzige politische Kraft außer den Befürwortern der Unabhängigkeit, die hart mit Rajoy in Gericht ging, ist die linksalternative Podemos. "Was der PP mit unserer Demokratie macht, widert mich an. Korrupte, Heuchler, Nichtsnutze", twitterte Parteichef Pablo Iglesias nach den ersten Polizeiübergriffen. Aufsehen erregte auch der FC Barcelona, der sein Ligaspiel gegen Las Palmas zunächst absagen wollte. Am Ende wurde entschieden, die Partie doch auszutragen – allerdings ohne Publikum. Barcelona siegte mit 3:0.

Die Schlange vor der Schule in der Barceloneta wurde bis in die Abendstunden nicht kürzer. Immer neue Menschen stellten sich geduldig an. "Was mich am meisten ärgert: Die Europäische Union kehrt uns den Rücken zu", erklärt Araceli Vinaber, die, obwohl sie ihre Stimme längst abgegeben hat, einfach nicht nach Hause wollte. (Reiner Wandler, 1.10.2017)