Veronica Kaup-Hasler legt nach zwölf Jahren Intendanz ihre Leitungsfunktion beim Steirischen Herbst nieder und konstatiert, dass das soziale Anliegen in der Kunst in den letzten Jahren zugenommen hat.

Foto: J. J. Kucek

STANDARD: Was haben Sie in den zwölf Jahren Ihrer Herbst-Intendanz von der Kunst gelernt?

Kaup-Hasler: Ganz persönlich eine Öffnung hin zu anderen Künsten. Mein Hintergrund war anfangs Theater, Performance und Neue Musik, mit einer Erweiterung zum Tanz. Hier in Graz haben sich andere Interessen explosionsartig verstärkt.

STANDARD: Und mit Blick auf das Festival?

Kaup-Hasler: Dass der Steirische Herbst als stark kuratiertes Festival, das autonom agierende Institutionen mit einbezieht, nach wie vor ein zukunftsweisendes Modell ist. Der Mehrwert dabei: Die Institutionen erhalten Zuschüsse und können Projekte umsetzen, die der normale Jahresbetrieb so nicht zulassen würde. Das erfordert viel Respekt. Außerdem muss man lernen, das Wissen vieler zusammenzuführen – und gleichzeitig etwas in der Hand zu halten und loslassen zu können. So kann man in verschiedenen Bereichen am zeitgenössischen Diskurs bleiben.

STANDARD: Wie hat sich die Kunst seit 2005, Ihrem Einstieg in den Herbst, verändert?

Kaup-Hasler: Es gab viele Phasen. Im Tanz ist der konzeptuelle Ansatz, der Anfang der 2000er-Jahre wegweisend war, eher zurückgegangen. Dafür wird, wie etwa von Mette Ingvartsen, wieder mehr über tänzerische Positionen nachgedacht. Oder: Mit dem siebentägigen Marathonprojekt Truth is concrete haben wir uns 2012 auf aktivistische Positionen und Strategien in Politik und Kunst konzentriert.

STANDARD: Warum?

Kaup-Hasler: Das kam aus der Beobachtung der Zeit: der Finanzkrise, der New Yorker Occupy-Wall-Street-Demonstrationen oder des damals hoffnungsvollen sogenannten Arabischen Frühlings. Vor fünf Jahren haben viele Künstler ihre Tätigkeit in Richtung eines konkreten gesellschaftlichen Engagements auf der Straße verlagert. Das Soziale wurde wichtiger als die ästhetische Auseinandersetzung.

STANDARD: Ist das heute anders?

Kaup-Hasler: Jetzt geht es – vor allem in der bildenden Kunst – mehr um Künstler jenseits des westlichen Raums. Europa und die USA sind nicht mehr die Zentren des Kulturgeschehens. Das haben wir im Vorjahr bei der Konferenz "Welcome to the former West" zu bündeln versucht.

STANDARD: Hatte die in die Kultur geflüchtete Linke Erfolg?

Kaup-Hasler: Viele Künstler und Intellektuelle in den USA waren völlig geschockt darüber, wie falsch sie die realen Verhältnisse interpretiert und die Dominanz bestimmter Medien eingeschätzt haben. Da fragt man sich schon, welche Rolle Kultur und Kunst spielt und wen wir damit erreichen. Man schließt sich in einer Selbstvergewisserung ein.

STANDARD: Wovor will man sich da schützen?

Kaup-Hasler: Wir befürchten in der Kunst zu sehr, dass Öffnung ausschließlich mit dem Aufgeben von Inhalten und mit Populismus einhergeht. So etwas ist auch für mich ein No-Go, wir müssen unbedingt an schwierigen Formen und herausfordernden Inhalten festhalten. Aber in der Kunst ist eine Segregation gang und gäbe, die permanente Exklusion und Hierarchien erzeugt. Das gehört hinterfragt: Wie schaffen wir soziale Räume, die die Geste der Einladung und Vermittlung an jene ermöglichen, die grundsätzlich interessiert sind? Ich versuche das zum Beispiel mit unserem Festivalzentrum zu erreichen: einer programmierten Zone der Begegnung, die offen für alle ist.

STANDARD: Reicht das schon?

Kaup-Hasler: Nein, aber dieses Prinzip zieht sich durch das ganze kuratorische Konzept. Bei unserem Projekt zu Elfriede Jelinek – Die Kinder der Toten, ein hochkomplexer Text – haben wir Angebote entwickelt, die Lust auf die Herausforderung machen. Man kann Jelinek nicht einfach konsumieren, aber man kann Teile für sich herausnehmen. Dasselbe gilt für die Choreografin Marlene Monteiro Freitas oder den Künstler Walid Raad. Kunstvermittlung nimmt im Festival einen großen Raum ein: etwa durch Arbeit mit Schulen.

STANDARD: Fließt zugleich nicht die Kunst zu sehr ins Soziale über?

Kaup-Hasler: Für mich wird die Kunst immer im Mittelpunkt stehen. Aber das Hineingrätschen ins Soziale hat in der Kunst während der vergangenen zwei Jahrzehnte sehr zugenommen. Es gab schon in den 1960ern eine sehr stark soziale Kunstbewegung. Das wurde ab den 2000er-Jahren wiederaufgenommen und hat sich verstärkt als ästhetisches Format durchgesetzt.

STANDARD: Das ist dann die "Immersion" von Kunst in sozial orientierte, aktivistische Ästhetiken?

Kaup-Hasler: Ja, genau. Wir haben das immer wieder gemacht, wenn es die Notwendigkeiten eines Konzepts gegeben hat. Kunst und Kultur wird mehr Bildungsarbeit leisten müssen: Die für Kunst wichtigen Parameter werden in den Schulen nicht gelehrt. Also müssen wir kluge, sinnliche Projekte finden, in denen wir das leisten. Dafür ist es nötig, sich von ökonomischen und politischen Vorgaben freizuspielen und das Soziale oder Politische nur dann zu machen, wenn es aus der Kunst selbst kommt. Ich bin gegen die Zurichtung und Instrumentalisierung von Kunst, denn die bedeutet eine Beschneidung ihrer Autonomie. (Helmut Ploebst, 2.10.2017)