Der ehemalige Präsident des Irak stirbt zu einem für den Irak und die irakischen Kurden besonders schwierigen Zeitpunkt. Seine diplomatischen Fähigkeiten mit verschiedenen verfeindeten Fraktionen reden zu können, fehlten bereits seit Dezember 2012. Mit Talabani, oder Mam Jalal ("Onkel Jalal"), wie ihn die Kurdinnen und Kurden nennen, stirbt einer der wenigen irakischen Politiker, der noch über die eigene Gruppe hinaus dachte.

Jalal Talabani 1933-2017
Foto: AP/Liu Jin

Talabani stellte für die irakischen KurdInnen eine neue Art des politischen Führers dar. War Molla Mustafa Barzani noch ganz der traditionelle Stammesführer, in dem sich religiöse, tribale und politische Autorität verbanden, so stand der junge Anwalt mit linken Ideen für eine neue Generation politischer und militärischer Kader, die eine moderne Bildung genossen hatten und sich als Führer einer antiimperialistischen nationalen Befreiungsbewegung verstanden. Die aus diesen unterschiedlichen Zugängen resultierenden Konflikte mit den Barzanis brachen bereits 1964 auf, als Talabani und sein Schwiegervater Ibrahim Ahmed, die das Politbüro der KDP beherrschten, das Zentralkommittee der Partei einberiefen und die Verurteilung eines zwischen Barzani und der Regierung in Bagdad geschlossenen Waffenstillstands durchsetzten. Molla Mustafa Barzani erklärte die Sitzung kurzerhand für illegal, setzte das Politbüro ab und ernannte ein neues ihm ergebenes Politbüro. Barzani-loyale Peschmerga, wie die kurdischen Guerillakämpfer genannt werden, griffen sogar das Hauptquartier des Talabani-Ahmed-Politbüros an und erzwangen deren Flucht in den Iran.

Peschmerga und Politiker

Bereits damals erwies sich Talabani allerdings als geschickter Taktiker und Diplomat. Nur ein Jahr später kehrte er mit seinen Anhängern dank iranischer Vermittlung in den Irak zurück und versöhnte sich mit Barzani, dem er während seines großen Aufstands in den Siebzigerjahren als loyaler Vertreter der KDP im strategisch wichtigen Syrien diente. Erst nachdem der Iran und die westlichen Unterstützer des Aufstands diesen 1975 im Stich gelassen hatten, rund 250.000 kurdische Flüchtlinge in den Iran flohen und der bereits schwer kranke Molla Mustafa Barzani zur medizinischen Behandlung in die USA ausgeflogen worden war, begann Talabani seine eigene Partei aufzubauen. Nachdem einige Bauern und verstreute Peshmerga bereits kurz nach der Niederlage spontan den Widerstand gegen die Arabisierungspolitik der Regierung fortsetzten, verlegte Talabani 1977 das Hauptquartier seiner im Exil gegründeten neuen Partei, der Patriotischen Union Kurdistans (PUK), nach Irakisch-Kurdistan und reorganisierte den militärischen Widerstand gegen Bagdad.

Seither stand die PUK immer wieder in scharfem Gegensatz zur KDP, die von den Söhnen Molla Mustafas, Idris und Masud, geführt wurde. In einer wechselhaften Geschichte von Verhandlungen und militärischem Widerstand gegen das Regime blieb Talabanis PUK jedoch vor allem im südlichen Teil Irakisch-Kurdistans, der sich auch sprachlich durch den dort gesprochenen Sorani-Dialekt von den nördlichen Hochburgen der Barzanis unterschied, die dominante kurdische Widerstandsorganisation. Einheiten der PUK konnten während des irakisch-iranischen Krieges in den 1980er-Jahren immer wieder kleinere Gebiete befreien. In der mit Unterstützung iranischer Truppen befreiten Stadt Halabja rächten sich die Truppen Saddam Husseins 1988 mit dem größten Giftgasangriff in der irakischen Geschichte, bei dem rund 5.000 kurdische Zivilistinnen und Zivilisten ums Leben kamen.

Gedenkstätte für die Opfer von Halabja.
Foto: Thomas Schmidinger

Erst nach dem Zweiten Golfkrieg 1991 gelang es den Kurdinnen und Kurden im Schutz einer Flugverbotszone große Teile Irakisch-Kurdistans zu befreien. "Onkel Celal" wurde damit vom Guerillaführer zum international respektierten Politiker. Die prekäre, international nicht anerkannte Para-Staatlichkeit und der innerkurdische Bürgerkrieg zwischen den Peshmerga der KDP und jenen der PUK hätten mehrmals fast zum Scheitern dieses Experiments beigetragen. Dass Talabani dabei immer wieder auf die eigenen Militärführer mäßigend einwirkte hat sicher wesentlich zu jener Kompromisslösung beigetragen, die zwar den innerkurdischen Bürgerkrieg, nicht aber die Rivalitäten zwischen KDP und PUK beendeten. 2003 standen Talabani und Masud Barzani schließlich mit ihren Truppen gemeinsam auf der Seite der USA, als diese Saddam Hussein zwölf Jahre nach dem Zweiten Golfkrieg doch noch stürzten.

Diplomat und Staatsoberhaupt

Talabanis Stunde schlug am 6. April 2005, als mit ihm der erste Kurde zum Staatspräsidenten des Irak gewählt wurde. Zugleich läutete er damit allerdings auch den politischen Niedergang seiner PUK ein. Während sich sein alter Rivale Masud Barzani mit dem formal niederrangigeren Posten eines Präsidenten der Kurdischen Autonomieregion zufrieden gab, de facto damit jedoch seine Macht in einem de facto unabhängigen Para-Staat ausbauen konnte, wurde Talabani Staatsoberhaupt eines weitgehend disfunktionalen Staates, in dem ihm zwar eine wichtige Rolle als Mediator zukam, er aber kaum eine eigene Machtbasis aufbauen konnte.

Diese Rolle des Mediators spielte er allerdings in einer so überzeugenden Weise, dass ihm manche Kurdinnen und Kurden gar "Verrat" an der kurdischen Sache vorwarfen. Tatsächlich war Talabani in der schweren Zeit des irakischen Bürgerkriegs, in dem das Land von ethnisierter und konfessionalisierter Gewalt zerrissen wurde, zunehmend so etwas wie der letzte wirkliche Iraker, der seiner Rolle als Staatsoberhaupt dadurch gerecht wurde, dass er nicht die kurdischen Partikularinteressen vertrat, sondern versuchte, zwischen diesen und den arabischen Sunniten und Schiiten zu vermitteln.

Es kann nur als Ironie der Geschichte betrachtet werden, dass Talabani, gerade weil er ein so erfolgreicher und auf politischen Ausgleich bedachter Präsident des Irak war, machtpolitisch den Kürzeren zog. Der bereits seit Jahren gesundheitlich angeschlagene und im Vergleich zu Barzani deutlich ältere Politiker konnte sich nicht mehr selbst um die Angelegenheiten seiner Partei kümmern, sondern überließ sie einer vielfach korrupten und weitgehend ungebildeten zweiten Riege. Erfahrene ehemalige Peshmergaführer mit ihren unbestreitbaren militärischen Verdiensten mussten noch keine guten Politiker sein und blockierten vielfach den Aufstieg jüngerer und gebildeter Eliten. Die Spaltung der PUK und das Zerwürfnis mit seinem alten Kampfgefährten Noshirwan Mustafa Emin, der 2009 mit der Liste Goran eine erfolgreiche rivalisierende Partei gründete, gehört sicher zu den schwersten parteipolitischen Niederlagen des späten Talabani.

Krankheit und Amtsunfähigkeit

Am 17. Dezember 2012 erlitt Talabani einen Schlanfall und wurde zur Behandlung nach Deutschland gebracht. Er blieb zwar bis 2014 Staatspräsident, galt jedoch als amtsunfähig. Enge Freunde, die ihn nach seiner Rückkehr in den Irak 2014 noch sahen, berichteten davon, dass er nie wieder sprechen konnte. Bei den wenigen öffentlichen Auftritten sagte er nie wieder ein Wort, sondern wurde nur kurz ins Bild gerückt. Seine Fähigkeit zwischen den zerstrittenen Gruppierungen im Irak zu vermitteln, fehlte schmerzlich und dürfte mit dazu beigetragen haben, dass jenes politische Vakuum entstand, das 2014 den so genannten "Islamischen Staat" groß werden ließ.

Im Gegensatz zu vielen anderen Politikern des Irak verlor Talabani nie den Gesamtstaat aus den Augen. So sehr er sich für die Rechte seiner kurdischen Bevölkerung einsetzte, so sehr verstand er sich auch als Präsident aller Irakerinnen und Iraker und vermittelte zwischen Sunniten und Schiiten, setzte sich für religiöse Minderheiten ein und versuchte einen gemeinsamen, allerdings föderalen, Irak zu bewahren.

Zu seinen letzten Verdiensten zählte es noch im November vor seinem Schlaganfall 2012, einen Bürgerkrieg zwischen Maliki-loyalen Truppen der irakischen Armee und der Sicherheitskräfte der kurdischen Autonomieregion um die umstrittenen Gebiete verhindert zu haben. Solches Geschick wäre heute, angesichts der Zuspitzung nach der Volksabstimmung über die Unabhängigkeit Kurdistans nötiger denn je.

Auf Gebäuden von Talabanis PUK wurde immer neben der kurdischen auch die irakische Fahne gehisst.
Foto: Thomas Schmidinger

Ungewisse Zukunft

Nicht nur im Irak, auch in seiner Partei hinterließ Talabani schon 2012 eine große Lücke. Die Nachfolge Talabanis ist bis heute nicht geklärt. Neben seinem Sohn Qubad, Malla Bakhtiar, Kosrat Rasul und dem lange Jahre in Österreich im Exil lebenden Sadi Pire stehen gleich mehrere mächtige Männer in den Startlöchern für eine Nachfolge als Parteichef. Die politisch einflussreiche und durchaus als eigenständige Intellektuelle bekannte und beliebte Präsidentengattin Hero Ibrahim Ahmed wird angesichts der patriarchalen Strukturen der kurdischen Gesellschaft wohl eher im Hintergrund eine wichtige Rolle spielen. Auch die verbliebene PUK ist von politischen Gräben und Ressourcenkonflikten durchzogen. Ob sie nach dem Tod ihres charismatischen Gründers in dieser Form zusammen gehalten werden kann, muss sich erst zeigen. Keiner der potentiellen Nachfolger hat ein ähnliches politisches Gewicht wie Talabani selbst.

Die PUK wurde auch aufgrund einer fehlenden Führungspersönlichkeit seit 2012 zunehmend marginalisiert. Heute dominiert Barzanis KDP die politische Landschaft Irakisch-Kurdistans. Barzani konnte im Gegensatz zu Talabani mit dem Irak nichts anfangen. In dem von seiner KDP beherrschten Gebiet wurde seit Jahren nur die kurdische Fahne gehisst. Nun hat er Irakisch-Kurdistan zu einer Volksabstimmung über die Unabhängigkeit geführt, bei der fast 93 Prozent der abgegebenen Stimmen für die Abspaltung von Bagdad ausgingen.

Die Volksabstimmung über die Unabhängigkeit Irakisch-Kurdistans am 25. September war Barzanis Werk.
Foto: Thomas Schmidinger

Eine gute Woche nach der Volksabstimung weicht die patriotische Begeisterung allerdings zunehmend der Sorge um die Zukunft. Das Land ist isoliert und in manchen Städten macht sich bereits die Kriegsangst breit. War der Bevölkerung von der Führung der regierenden KDP bislang eingeredet worden, dass sie mit diesem Mandat der Bevölkerung in erfolgreiche Verhandlungen über die Unabhängigkeit eintreten könne und Kurdistan über zuverlässige Verbündete verfüge, so zeigt sich jetzt deutlich, dass Barzani mit seiner Volksabstimmung nicht nur die USA, sondern auch sämtliche Nachbarn gegen sich aufgebracht hat.

Situation in Erbil

Seit Freitag ist der Flughafen in Erbil verwaist. Die Regierung in Bagdad verhängte ein Luftembargo über die Flughäfen der Autonomieregion Kurdistan und verlangt die Übergabe der Flughäfen an die Zentralregierung. Kein internationales Flugzeug landet seither in Erbil. Ausländische Mitarbeiter von NGOs und Internationalen Organisationen versuchten am Freitag noch mit den letzten Fliegern das Land zu verlassen. Viele von ihnen haben nur eine kurdische Aufenthaltsgenehmigung und könnten mit dieser nicht einmal nach Bagdad fahren um über Bagdad auszureisen.

Der Nachbarstaat Iran hat sämtliche Grenzen zur Autonomieregion geschlossen und gemeinsame grenznahe Militärmanöver mit der irakischen Armee angekündigt. Die türkische Armee drang bereits in einige Grenzgebiete vor, in denen sie auch in der Vergangenheit immer wieder die Guerillakämpfer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) jagte.

Bei einem Blitzbesuch Wladimir Putins in Ankara betonten die beiden Präsidenten die territoriale Integrität des Irak und Syriens verteidigen zu wollen. Im Moment kann Barzani, dessen Amtszeit als Präsident der Autonomieregion eigentlich schon seit zwei Jahren abgelaufen ist, allerdings trotzdem eigenmächtig weiterregiert, lediglich auf die Unterstützung Israels verweisen. Die demonstrative Unterstützung Netanyahus hat den irakischen Kurden bislang allerdings wenig mehr als den Zorn seiner Nachbarn eingebracht. Dass auf den Großdemonstrationen für die Unabhängigkeit sowohl in Irakisch-Kurdistan als auch in der europäischen Diaspora auch israelische Fahnen geschwungen wurden, gilt den arabischen Staaten, der Türkei und dem Iran als Beleg dafür, dass sich die irakischen Kurden zum Instrument des "zionistischen Feindes" gemacht haben.

So wird derzeit in regierungsnahen türkischen Zeitungen offen darüber spekuliert, Barzani habe mit seiner Volksabstimmung im Auftrag "internationaler Mächte" agiert. Wer damit gemeint ist, ist türkischen Leserinnen und Lesern klar. Und auch in der arabischen Presse wird die israelische Unterstützung für Barzani ständig zum Anlass für antikurdische Berichterstattung verwendet.

Auch die Flüge von Wien nach Erbil sind von der Sperre des Luftraums nach Kurdistan betroffen.
Foto: Thomas Schmidinger

Für die Bevölkerung Irakisch-Kurdistans wäre eine dauerhafte Blockade der Region fatal. Obwohl seit 2014 wieder verstärkt Anstrengungen in eine eigenständige Lebensmittelversorgung der Region bemerkbar waren, ist die Region in fast allen Konsumgütern von der Türkei abhängig. Selbst Obst und Gemüse kommt vielfach vom nördlichen Nachbarn, während das Gemüse kurdischer Kleinbauern aufgrund fehlender Transportlogistik kaum in die großen Städte transportiert werden kann. Kurdistan wurde bereits in den Jahren des doppelten Embargos von 1991 bis 2003 zu einer Hilfsökonomie, die zur Zerstörung der lokalen Landwirtschaft führte und den Weg für türkische Unternehmen bereitete. Auch wenn eine Rückkehr zu einer regionalen Landwirtschaft sicher positiv wäre, so könnte ein plötzlicher Ausfall dieser Waren so schnell nicht kompensiert werden. Für andere Sektoren der kurdischen Ökonomie, die mittlerweile ebenso eng mit der türkischen Ökonomie verwoben sind, könnte eine solche Blockade auch bald fatale Auswirkungen haben.

In Kurdistan wächst die Kriegsangst. Doch wer weiß, vielleicht kann die gemeinsame Trauer um den ehemaligen Staatspräsidenten dazu beitragen einen solchen Krieg zu verhindern. Es wäre ein letztes Mal, dass Talabani noch einmal posthum diplomatisches Geschick beweisen könnte. (Thomas Schmidinger, 3.10.2017)

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