Müht sich um Zustimmung: Chris Dercon in Berlin.

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Wien – Mit dem Ende der Hausbesetzung am Berliner Rosa-Luxemburg-Platz ist die Ordnung notdürftig wiederhergestellt. Chris Dercon, vom vormaligen Kulturstaatssekretär Tim Renner zum Intendanten der Volksbühne bestellt, darf sich wieder uneingeschränkt als Hausherr fühlen und als solcher um die so schmerzlich entbehrte Anerkennung werben.

Mit dem Eindringen der Gentrifizierungskritiker von "Staub zu Glitzer" besaß der Protest plötzlich eine (unrechtmäßige) Anschrift. Auf der Agenda der gutgelaunten Querulanten stand u. a. die Kritik am kommunalen Ist-Zustand. Wohnraum wird immer knapper in Berlin. Das Hinaufschnellen der Mieten sorgt für die Vertreibung konsumschwacher Stadtbewohner aus den Zentrallagen. Bedroht scheinen die lebenspolitischen Voraussetzungen für symbolische Wertschöpfung.

Ist es bloßer Zufall gewesen, dass die redlichen, garantiert herrschaftsfrei agierenden Besetzer sich ausgerechnet die Volksbühne als temporären Unterschlupf für ihr Anliegen ausgewählt hatten? Bestimmt nicht. Der Belgier Dercon genießt als gelernter Kunstkurator das Misstrauen nicht nur jener, die Frank Castorfs langem Sommer der Anarchie nachtrauern. Castorfs Intendanz dauerte ein Vierteljahrhundert.

Ebenso tüchtig wie flüchtig

Und wieder ist es die Politik von Zuständigkeit und Anschrift, die im Emblem der Volksbühne, dem Schriftzug OST, einst ihren sinnfälligen Ausdruck fand. Mit dem "Gaunerrad" mit den Füßen dran wurde obendrein die Kultur des Widerstands beschworen. Denn so kurz die stilisierten Beinchen auch anmuteten: Der Neokapitalismus ist in den Augen vieler Verdrossener mit Bindung an die alte DDR noch viele Mal lügenhafter.

Chris Dercon badet an anderer Stelle aus, was Angela Merkel soeben bei den deutschen Bundestagswahlen mehr als bloß unsanft zu spüren bekam. Merkels bedachtsames Niederhalten von Konflikten wird von zahlreichen "Wutbürgern" (oft genug von Ostdeutschen) als Flucht vor der Verantwortung interpretiert. Wer nicht Farbe bekennt, ist auch nicht belangbar.

Dercon wiederum ist als Museumsdirektor und Kunstkurator eine ebenso tüchtige wie flüchtige Erscheinung. Gestern München und London, heute Berlin-Ost: Unter den Vorzeichen einer als dubios empfundenen Beschleunigung wird auch Mobilität zur Schwundform.

Der Akteur hält mit der Bewegung der Datenströme gerade noch Schritt. Gleichzeitig haftet er für die Folgen seines Tuns nicht mehr im vollen Ausmaß. Der Vorzug der Beweglichkeit verkehrt sich in den Makel, auf Einsprüche nicht mehr antworten zu wollen – oder zu können.

Mit der Entscheidung, die Volksbühnen-Ära Dercon nicht im Haupthaus beginnen zu lassen, sondern in Tempelhof, gießt der Neo-Intendant Wasser auf die Mühlen seiner vielen Verächter. Dercons Antipoden ist eine Versachlichung ihrer Wutreden dringend anzuraten. Umgekehrt wird auch Dercon sein demonstrativ gelebtes Weltbürgertum neu erden müssen. Vielleicht erwischt man ihn noch beim Kauf einer Platte von den Puhdys. (Ronald Pohl, 4.10.2017)