Demonstranten werfen in Barcelona aus Protest Stimmzettel in die Luft. Sie forderten während des Generalstreiks am Dienstag erneut von Madrid, ihr Unabhängigkeitsvotum anzuerkennen.

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Aus den Lautsprechern vor der Schule Pia Sant Antoni in der Innenstadt von Barcelona klingt "Imagine" von John Lennon. Hunderte haben sich versammelt. "Wir sind Menschen des Friedens", steht auf den Aufklebern, die viele tragen. Auf dem Boden stehen vier Urnen wie diejenigen, an denen am Sonntag mehr als zwei Millionen Katalanen trotz Verbots durch die Regierung in Madrid über ihre Unabhängigkeit abgestimmt haben. "Es sind nicht die Originale", sagt Itziar Santiago. Die 45-jährige Direktorin eines Altersheims war die Verantwortliche für einen der vier Wahltische in der Sant-Antoni-Schule. Die mit Knüppeln und Gummigeschoßgewehren bewaffneten Sondereinsatzkräfte hätten sich am Sonntag den Weg zu den Urnen freigeprügelt, die sie schließlich beschlagnahmten.

Gedenkveranstaltungen wie die von Sant Antoni fanden am Dienstag vor allem in von Polizeieinsätzen betroffenen Schulen statt. Sie bildeten den Auftakt zum "Stillstand des Landes" aus Protest gegen die Polizeigewalt. Die öffentlichen Verkehrsmittel fuhren nur mit Notfahrplan. Geschäfte, viele Schulen, Unis und Behörden blieben geschlossen. In vielen Unternehmen ruhte die Arbeit zumindest für eine Kundgebung. In Barcelona zogen den ganzen Tag über Zehntausende durch die Straßen.

Ungewisse Zukunft

Gerufen hatten die katalanische Zivilgesellschaft, einige Gewerkschaften und auch die Autonomieregierung unter Carles Puigdemont, die auch das Referendum gegen den Willen des konservativen Kabinetts von Premier Mariano Rajoy in Madrid organisiert hatte. Die größten spanischen Gewerkschaften hatten sich dem Streikaufruf nicht angeschlossen. Stattdessen riefen sie zu einem Dialog zwischen der Zentralregierung in Madrid und der Regionalregierung in Barcelona auf.

Wie es jetzt weitergehen soll, fragen sich hier alle. "Mein Bauch sagt, wir sollten sofort einseitig die Unabhängigkeit erklären", antwortet Santiago. "Doch mein Kopf weiß, dass dies unseren Anliegen nicht dienlich wäre." Montse Torra, die zwei Kinder in der Schule hat, sieht das anders. "Madrid wird uns nie zuhören oder gar verhandeln", ist sich die 50-jährige Sekretärin sicher. Sie ist nicht nur vom regierenden konservativen Partido Popular (PP) enttäuscht, sondern auch von der sozialistischen Opposition, die sich weitgehend hinter Rajoys Politik gestellt hat (siehe unten). Nur die linke Podemos nimmt sie aus. Aber die habe nicht die Kraft, einen Wandel herbeizuführen. Torra will deshalb "eine schnelle Unabhängigkeitserklärung". Selbst auf die Gefahr hin, dass Madrid dann versuchen könnte, die Regierung der Region zu übernehmen.

Fieberhafte Suche

Die Zweifel von Santiago und Torra spiegeln wider, was auch die katalanische Politik beschäftigt. Während die antikapitalistische Kandidatur der Volkseinheit (CUP), die die Minderheitsregierung von Puigdemont unterstützt, eine schnelle Unabhängigkeitserklärung will, setzt der Autonomiepräsident eher auf Zeitgewinn. Er sucht nach internationaler Unterstützung und nach internationalen Vermittlern, damit die Abspaltung Kataloniens mit der spanischen Regierung gütlich ausgehandelt werden kann. Seine Demokratische Europäisch-Katalanische Partei (PDeCat) stellt den konservativen Flügel im Regierungsbündnis "Gemeinsam für das Ja" (JxSí) dar. Der andere Partner, die Republikanische Linke Kataloniens (ERC) um Vizepräsident Oriol Junqueras, neigt eher der CUP zu.

Eine Unabhängigkeitserklärung binnen 48 Stunden nach dem noch ausstehenden Endergebnis der Volksabstimmung vom Sonntag – knapp über 90 Prozent stimmten für die Unabhängigkeit – galt deshalb eher als unwahrscheinlich. Gegen Ende dieser Woche soll erstmals wieder das Autonomieparlament zusammentreten und über das Ergebnis und die Folgen beraten.

Zum Schluss der Gedenkveranstaltung spielt die Stadtteilkapelle das Stück, das jedes Fest in Katalonien beendet und das plötzlich einen ganz neuen Sinn bekommt: "Auf Wiedersehen, bis zum nächsten Mal." Alle singen mit. Nach dem "Stillstand" von Dienstag werden neue Aktionen vorbereitet. (Reiner Wandler aus Barcelona, 3.10.2017)