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Der Fotokünstler Wolfgang Tillmans bei der Arbeit.

Foto: Picturedesk / laif / Michael Danner

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Die Beiläufigkeit eines Bildes ist die eigentliche Herausforderung: der Fotokünstler Wolfgang Tillmans.

Foto: Picturedesk / laif / Michael Danner

Bilder der Welt und von Mitmenschen zwischen Intimität und Verspieltheit: "corn silk".

Foto: Wolfgang Tillmanns

"Anders pulling splinter from his foot".

Foto: Wolfgang Tillmanns

"young man, Jeddah, b".

Foto: Wolfgang Tillmanns

Aus der Reise-Serie "Neue Welt" "Tukan".

Foto: Wolfgang Tillmanns

"asto crusto, a".

Foto: Wolfgang Tillmanns

Beispiel für Tillmans' politisches Engagement: eines der Plakate für die deutsche Bundestagswahl.

Foto: Wolfgang Tillmanns

Es ist ein umtriebiges Jahr für Wolfgang Tillmans. Zuerst eine große Schau in der Tate Modern in London, durch die man wie durch ein Bilderlexikon der Gegenwart schreitet; dann eine Werkretrospektive in der Fondation Beyeler in Basel. Und nun noch der Hamburger Kunstverein, der Tillmans anlässlich des 200-Jahr-Jubiläums zu einer installativen Ausstellung eingeladen hat – sie fasst auch Zeitspannen in den Blick: "Zwischen 1943 und 1973 lagen 30 Jahre. 30 Jahre nach 1973 war das Jahr 2003."

Ein Video, das einen Wellengang aus verschobener Perspektive erleben lässt, steht da nahe bei Porträts, in denen Menschen ihr vielseitiges Selbst zurückspiegeln; daneben Arbeiten, die an die Anfänge des mit dem Turner-Preis prämierten Fotokünstlers führen, als er Zivildiener in Hamburg war. In der Hansestadt hat Tillmans Ende der-80er-Jahre auch die Acid- und Technoszene kennengelernt, deren Lebensgefühl er mit seinen berühmt gewordenen Bildern festhielt. Auf einer Couch im Kunstverein lässt er im Gespräch die Jahre Revue passieren und spricht über die Voraussetzungen für seine Arbeit.

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Die Beiläufigkeit eines Bildes ist die eigentliche Herausforderung: der Fotokünstler Wolfgang Tillmans.
Foto: Picturedesk / laif / Michael Danner

STANDARD: Als Kind waren Sie sehr an Astronomie interessiert. Der Blick auf die Sterne – das erschien mir für einen Fotografen wie ein mythologisches Bild. War das eine Schule des Sehens?

Wolfgang Tillmans: Dadurch ist mir zum ersten Mal die Wichtigkeit der genauen Beobachtung bewusst geworden. Man beobachtet ja Licht und Lichtfarben: Sterne haben, wie man weiß, unterschiedliche Farben. Durch das Teleskop sieht man diese Farben und beginnt zu verstehen, dass Licht mit Farbe und Temperatur zu tun hat. Ich habe dadurch begriffen, dass das Auge kein absoluter Rekorder ist, sondern ein relatives Aufnahmegerät.

STANDARD: In welchem Sinne?

Tillmans: In dem Sinne, dass es mechanische, optische Grenzen hat. Zum Beispiel sind die Farbsehzellen in der Mitte des Auges weniger lichtempfindlich als die darum herumliegenden Schwarz-Weiß-Sehzellen. Wenn man ein besonders lichtempfindliches Objekt sehen will, muss man daher seitlich daran vorbeischauen.

STANDARD: Die Bilder sind also trügerisch.

Tillmans: Ja, denn wenn man genau darauf schauen würde, verschwindet das Bild. Außerdem ist Scharf- und Klarheit abhängig von den Bewegungen der Atmosphäre. Was man als Funkeln der Sterne kennt, ist der Lichtstrahl eines Sterns, der in der Atmosphäre hin und her geworfen wird und tanzt. Mir ist in der Hamburger Ausstellung allerdings auch bewusst geworden, wie sehr das Briefmarkensammeln eine weitere Initiation war.

STANDARD: Dort gibt es ein Bild, auf dem Sie mehrere historische Briefmarken aus Deutschland zu einer Fotocollage zusammengestellt haben.

Tillmans: Und so ist mir bewusst geworden, dass ich die Bauhaustreppe von Oskar Schlemmer zum erste Mal auf einer Briefmarke gesehen habe. Ich habe also ein Grafik und Designstudium über die Briefmarken der letzten hundert Jahre gemacht!

STANDARD: Ihre ersten Bilder haben Sie wiederum mit dem Fotokopierer gefertigt, indem Sie neue Ausschnitte auf gedruckten Bildern gesucht haben.

Tillmans: Man könnte fast sagen, dass das Umsetzen des von der Linse gemachten Bildes auf Papier eigentlich meine Kunst ist. Mit diesem ersten Kopiergerät von Canon von um 1989, das Bilder in Graustufen abbilden konnte, also mit einem billigen, minderwertigen Medium, habe ich entdeckt, dass Schönheit und Feinheit in der Degradierung der Qualität liegen. In der schlechten Vergrößerung fanden sich Störungen, die das Ganze für mich reicher machten. Das ist mir wie ein Wunder erschienen: Mechanisch hergestellte Objekte konnten Emotionen tragen, Gefühle ausdrücken. Das ist eigentlich das, womit ich mich in den letzten 30 Jahren beschäftigt habe.

Bilder der Welt und von Mitmenschen zwischen Intimität udn Verspieltheit: "corn silk", "Anders pulling splinter from his foot" und "young man, Jeddah, b"
Foto: Wolfgang Tillmanns

STANDARD: Ist das Gefühl im Bild verborgen? Braucht es nur die Technologie als Verlängerung des menschlichen Auges, also ein Überauge, um es sichtbar zu machen?

Tillmans: Ich versuche das immer niederschwellig aufzuhängen, ohne Theorieanleitung. Einerseits bin ich sehr medienreflektiert, andererseits bin ich an Unmittelbarkeit interessiert. Diese Zweigleisigkeit hat in den ersten zehn, 15 Jahren meiner Arbeit auch viele verwirrt oder beleidigt. Es gab viel Gegenwind. Mir ist jedoch immer klar gewesen, dass man als Betrachter selber Dinge entdecken will. Man will sie vom Künstler nicht vorgesagt bekommen. Es ist leicht, etwas kompliziert aussehen zu lassen. Es ist viel schwieriger, etwas beiläufig aussehen zu lassen.

STANDARD: Wie hat sich denn diese Suche nach dem Einfachen, vermeintlich Beiläufigen ergeben? War das eine Entwicklung, die mit ihren Porträts in den 1990er-Jahren begonnen hat?

Tillmans: Das ist mir 1991 in England, relativ schlagartig, klar geworden. Ich wollte jeden sichtbaren Effekt aus meiner Technik herausnehmen. Ich habe die Porträtierten als meine Mitmenschen gesehen und nicht als Jugendliche. Wenn man selbst noch jung ist, betrachtet man den anderen ja nicht als jung. Ich habe eine schattenlose Ausleuchtung gefunden, die die Personen in ein gleichmäßiges, aber effektfreies Licht gestellt hat. Es ging mir um größtmögliche Klarheit, ich wollte die Person in ihrem Dasein akzeptieren. Man sollte sich nicht entschuldigen müssen für das, was man ist.

STANDARD: Das wurde ganz stark als Ausdruck eines Lebensgefühls interpretiert. Zugleich war diese Unmittelbarkeit jedoch immer eine Illusion, nicht wahr?

Tillmans: Damals ging es oft um Authentizität. Mir war immer klar, dass das ein Konstrukt ist. Sobald eine Kamera im Raum ist, ist nichts authentisch. Andererseits entsteht eine Realität, wenn man die Kamera im Raum mitbedenkt – das ist dann wiederum authentisch. An das Konzept "fly on the wall" mit einer Kamera, die niemand bemerkt, hab ich nie geglaubt. Das multispektrale Selbst, das sich aus verschiedenen Stilen und Bruchstücken konstruiert, war ein tief empfundenes Bewusstsein über mich und meine Mitmenschen. Ich bin mehr als nur einer, "I contain multitudes", wie Walt Whitman sagt. Man ist spirituell, still, laut, schwul, man mag Kinder, alte Menschen ...

STANDARD: Es geht darum, Widersprüche zu verkörpern, auszuhalten.

Tillmans: Ja, und zugleich ist nicht alles gleich. Das ist die ständige Herausforderung, die ich mir, dem Betrachter und der Kritik stelle. Der Titel meiner Ausstellung in der Tate Britain 2003, If one thing matters everything matters, hat mich fünf Jahre zurückgeworfen, genauso wie die Fotos mit Kate Moss.

STANDARD: Warum?

Tillmans: Weil ich genau in dem Moment, in dem klar wurde, dass ich nicht aus der Modefotografie komme, Mitte der 90er, plötzlich das berühmteste Modell der Welt für die größte Modezeitschrift fotografiert habe. Mit dem Titel der Schau habe ich die Potenzialität der Dinge gemeint. Ich wollte nie auf strategische Sicherheit setzen. Wenn mich diese zerschlissene Jeans interessiert, dann hat ja auch der Stuhl daneben, rein molekular, dieselbe Potenzialität, dass er mich interessiert. Aber ich wollte damit nie sagen, dass alles gleich viel wert ist. Das wurde missverstanden. Dafür habe ich dann schon so eine protestantische Moral und Wertschätzung.

STANDARD: Hängt das mit Ihrer Sozialisierung zusammen? Sie waren ja auch bei Taizé-Treffen.

Tillmans: Auch da ging es um Widersprüche. Zum Beispiel war ich seit frühester Zeit Neil-Young-Fan, und gleichzeitig fand ich Italo-Disco schon 1984 toll – nicht erst 2004, als es allgemein als cool galt. Ich habe Platten von Neil Young und Fehlfarben und Taizé-Choräle gehört. Ich habe das aber nicht als Gegensatz zelebriert. Dieser Wunsch nach Purheit und Stringenz widerstrebte mir immer.

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Der Fotokünstler Wolfgang Tillmans bei der Arbeit.
Foto: Picturedesk / laif / Michael Danner

STANDARD: Sie haben auch einmal gesagt, dass es ein Glück war, dass Sie zuerst nicht als Künstler galten.

Tillmans: Weil ich mich selber erfinden konnte, musste, durfte. Was das Medium Fotografie betrifft, wusste ich immer, dass ich als Künstler arbeite, obwohl ich in der Welt als Fotojournalist agiert habe. Und als Musikfotograf und Modefotograf. Wobei ich nie die klassische Modelaufbahn gemacht habe, ich wollte bloß die Bilder im i-D Magazine haben. Und ich habe nie Werbung gemacht.

STANDARD: Wie haben Sie denn für sich diese Unterscheidung getroffen? Ging es da auch um Widerstand gegen bestimmte Ökonomien?

Tillmans: Das ist schwierig, weil es für viele ja ein Broterwerb ist. Ich habe das nie verurteilend gemeint. Werbefotografie ist nicht böse, es ist vor allem etwas, das ich nie konnte. Ich kann nur gute Bilder machen, wenn die Absicht frei ist. Wenn es nach Vorgabe ist, bin ich kein freies Elektron mehr.

STANDARD: Aufträge behindern also die Kreativität?

Tillmans: Einen Porträtauftrag kann ich annehmen, weil das eine jahrhundertealte Tradition ist. Das ist ein klarer Deal zwischen Auftraggeber, Sitzendem und Abbildendem. Ein journalistisches, druckfähiges Porträt kann ich zusagen. Deshalb lasse ich mich bis heute von Zeitschriften fragen. Ich habe etwa unlängst einen Marathonläufer in Berlin porträtiert, der den Weltrekord brechen möchte. Das lasse ich zu, als Zufallsgenerator.

STANDARD: Da wissen Sie dann auch nicht, was passiert?

Tillmans: Genau, da ist nur die Versuchsanordnung interessant. Aber wenn es sich um eine halbe Stunde in einem Hotelzimmer handelt, kommt selten etwas Großartiges heraus. Die meisten Menschenbilder, die eine tiefere Resonanz haben, sind von Menschen, die mir nahe sind oder denen ich nahe sein will. Es gibt nicht den einen Modus operandi. Ich bringe mich in Bewegung und benutze bestimmte Strategien. Oft ist eine Bewegung von A nach B nur dazu da, dass auf dem Weg etwas Überraschendes passiert.

STANDARD: Ein anderes Beispiel ist das Buch "Neue Welt", in dem Sie den Istzustand einer globalisierten Welt abbilden – wie vorbereitet geht man denn an ein solches Projekt heran?

Tillmans: Das war ein lose strukturiertes Projekt, das 2014 mit einem Gefühl von Selbstzweifel begonnen hat. Ich fragte mich, ob ich nicht zu gut in den Bildern wurde, die ich machte.

STANDARD: Ein Gefühl von Routine?

Tillmans: Genau, ich fragte mich, was so ungewohnt sein könnte wie die Bilder von 1991. Zunächst beschritt ich den Holzweg, nach hässlichen Bildern zu suchen.

STANDARD: Was stellt man sich da als hässlich vor?

Tillmans: Einen Sinn für Absurdität habe ich natürlich immer gehabt. Zum Beispiel habe ich auf der Chelsea Flower Show Türme von Erdbeerpflanzen aufgestapelt, das Bild heißt Strawberry Towers. Das war wiederum eine Vorstufe für FESPA Digital / Fruit Logistica, für das ich eine Frucht- und Agrarmesse und eine Tintenstrahldruckermesse fotografiert habe. Nachdem die 2000er-Jahre eher dem Blick aufs Medium selbst, dem Atelier, dem Fotopapier (paper drop, Freischwimmer) gewidmet waren, dachte ich nun: Wie sieht eigentlich die Welt draußen aus, 20 Jahre nachdem ich mir erstmals ein Bild davon gemacht hatte. Ich wollte die Welt als Phänomen betrachten, parallel zu dem Gedanken des Anthropozäns, der vom Menschen geschaffenen Biosphäre. Diese Vorstellung, dass alles Teil eines Ganzen ist, hat mir geholfen, zurückzutreten und die Welt als Oberfläche zu betrachten. Aber nicht als oberflächlich. Ich hab viele Reisen gemacht, mit vielen Stopps, weil ich fand, dass man an den ersten Tagen an einem Ort ein erhöhtes Bewusstsein hat.

STANDARD: Für das Andere dieser Orte?

Tillmans: Ja, und ich bin wirklich stolz auf dieses Projekt und habe Fotografie noch einmal neu gelernt. Es war auch ein Glücksfall, dass ich es genau in der Zeit gemacht habe – heute müsste das Projekt anders aussehen, nach all den politischen Schockwellen.

STANDARD: Das war noch zu einem Zeitpunkt, an dem das liberale westliche Weltmodell noch nicht infrage gestellt wurde.

Tillmans: Ich bin bereits 2008 nach Lampedusa gefahren, insofern war für mich die Flüchtlingsthematik stark präsent. Ich bin dann auf die andere Seite, nach Tunesien gefahren, nur um einmal an diesen Orten zu sein, ohne Absicht, ohne Bilder, die ich finden wollte. Ich bin auch nach Israel gereist und bin dort alle Landesgrenzen abgefahren. Grenzen haben mich besonders interessiert, das heißt, die Welt war durchaus schon krisenhaft. Was aber erst in den letzten zwei Jahren ins Wanken gekommen ist, das war damals noch nicht so weit fortgeschritten. Kooperationen zwischen westlichen Ländern wurden nicht angezweifelt. Diese eurozentrifugalen Kräfte gab's noch nicht.

STANDARD: Das führt mich zu Ihrem politischen Engagement: Sie haben mit einer Kampagne gegen die Brexit-Befürworter gekämpft, sich zuletzt auch für die Teilnahme an der Bundestagswahl engagiert. Was hat diese neue Rolle denn ausgelöst?

Tillmans: Ich hab mein Medium als junger Mensch gewählt, weil ich politisch wirken wollte. Aktivistisch hatte ich allerdings nie gearbeitet, bis mir in den letzten Jahren klar wurde, dass alles, woran ich glaube, angegriffen wird: Das konnten sich Leute außerhalb Großbritanniens gar nicht vorstellen. Ich wusste, was das für Kräfte sind, was Rupert Murdoch umtreibt, mit welcher Perfidie hier Politik gemacht wird, wie Zeitungen zum Sprachrohr einer ganz bestimmten politischen Ausrichtung, nämlich der ihrer Inhaber, wurden. Das sind Hardcore-Kapitalisten, die wie alle Fanatiker nicht ruhen werden, bis sie ihr Ziel verwirklicht haben. Diese Kräfte wollen Europa schwächen, weil ihnen die Arbeitsschutzrechte ein Dorn im Auge sind. Mir war völlig egal, was das für mich als Künstler bedeutet. Ob das jetzt peinlich ist, oder ob ich als Kümmerer dastehe. Ich habe das als Bürger, als Londoner und Europäer gemacht.

Aus der Reise-Serie "Neue Welt" und eines der Beispiele für Tillmans' politisches Engagement: "Tukan", "asto crusto, a" und eines der Plakate für die Bundestagswahl.
Foto: Wolfgang Tillmans

STANDARD: Das heißt, es geht, ganz altmodisch gesagt, um die Erweckung von politischem Bewusstsein?

Tillmans: In Deutschland hatte ich das Gefühl, man schlafwandelt da etwas entgegen. Man hat die AfD für ein Randproblem gehalten, sich in Sicherheit gewähnt. Die Motive und die Sprache der Kampagne waren dann aber dezidiert auf ein Publikum gerichtet, das AfD-resistent ist. Ich habe Anzeigen in Hanf-, Jazz- und Skatermagazinen geschaltet, das sind frei denkende Leute, aber wahrscheinlich nicht sehr politisch. Was wir alle verlernt haben, ist uns unmittelbar zu äußern. Politisch zu äußern. Nicht nur einen amorphen Missmut, sondern: "Ich bin hierfür." Das meine ich, wenn ich von Mitte spreche: Es ist okay für das, was ist, aufzustehen. Ich fand es grausam, dass man es in Deutschland als Problem dargestellt hat, dass sich die Parteien zu einig sind. Das ist doch okay, dass man nicht so polarisiert.(Dominik Kamalzadeh, RONDO, 17.10.2017)

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