Ein Polizist vor dem Bahnhof in Marseille, kurz nachdem zwei Frauen bei einer Messerattacke getötet worden waren.

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Ein zugereister Kleinkrimineller ermordet zwei 20-jährige Studentinnen vor dem Bahnhof von Marseille mit einem Langmesser: Hätte das verhindert werden können? Diese Frage stellten sich am Dienstag viele Franzosen, nachdem bekannt geworden war, dass die Polizei den mit sieben Pässen ausgestatteten Tunesier einen Tag zuvor wegen wiederholten Ladendiebstahls festgenommen hatte. An sich wollte sie ihn des Landes verweisen, doch war der zuständige Beamte in der Präfektur am Samstag nicht erreichbar. Außerdem war in Lyon gerade keine Gefängniszelle frei.

Innenminister Gérard Collomb ordnete eine Untersuchung an – von der niemand Aufschlüsse erwartet. Zufällig wollte die Nationalversammlung am gleichen Tag das neue, seit Monaten diskutierte Antiterrorgesetz verabschieden. Die Annahme schien außer Zweifel zu stehen. Es ist das zwölfte in 15 Jahren, was allein schon zeigt, wie schwer sich Frankreich mit der Terrorbekämpfung tut. Der neueste Erlass geht weiter als alle Vorgänger; er folgt auf das Ausnahmerecht, das Ende 2015 nach den mörderischen Bataclan-Anschlägen in Kraft trat und diesen November nach mehreren Verlängerungen auslaufen soll.

Hausdurchsuchung heißt jetzt Hausbesuch

Einige Kernbestimmungen werden übernommen. So etwa die Hausdurchsuchungen, von denen die Polizei unter dem Notrecht über 4.000 vorgenommen hat. Sie werden jetzt "visites domiciliaires" genannt, was man ohne viel bösen Willen mit "Hausbesuche" übersetzen könnte. Hausarrest – der derzeit rund 60 Gefährder betrifft – heißt neu "individuelle Kontrollmaßnahme".

"Verdacht wird jetzt dem Beweis gleichgestellt"

Auf Druck von Anwälten und Menschenrechtsverbänden hat die Regierung von Präsident Emmanuel Macron eingewilligt, dass die Polizei im Voraus die Bewilligung eines Richters einholen muss. Damit ist das Prinzip der Gewaltenteilung zumindest formell gewahrt. Die Linke lief in der Nationalversammlung trotzdem Sturm. "Eine Vermutung genügt in Zukunft für einen Polizeieingriff", kritisierte die Partei Unbeugsames Frankreich. "Der Verdacht wird neuerdings dem Beweis gleichgestellt."

Wie im Ausnahmerecht kann die Polizei salafistische Moscheen für ein halbes Jahr schließen. Voraussetzung ist der Aufruf zu Gewalt- oder Terrorakten – oder die Verbreitung zugrunde liegender "Ideen oder Theorien". Die Linke bezeichnete diesen Ausdruck als zu schwammig, unterlag aber Macrons Partei La République en Marche (LRM). Die Konservativen wollten umgekehrt noch weiter gehen und die Leiter der geschlossenen Moscheen ausweisen. Sie scheiterten ebenso wie der Front National, der registrierte Salafisten mit einer sogenannten "S-Karteikarte" systematisch des Landes verweisen oder in geschlossene Anstalten einweisen wollte.

Angesichts der neusten Attentate lief die Parlamentsdebatte schlussendlich auf die Frage hinaus, ob die verfassungsrechtlich heikle Verschärfung der Antiterrorgesetzgebung im Alltag überhaupt etwas nütze. Der neueste Doppelmord in Marseille zeige gerade, dass der beste Erlass nichts nütze, wenn die Polizeiverwaltung den Einzelfall falsch einschätze, meinte der Linksabgeordnete Eric Coquerel.

Stoische Franzosen

Innenminister Gérard Collomb entgegnete, die französische Polizei habe seit Jahresbeginn zwölf Attentate verhindert. Das letzte deckte sie in einem Wohnhaus in Paris auf. In der Nacht auf Dienstag verhaftete sie fünf mutmaßliche Islamisten, nachdem Sprengstoffexperten vier Gasflaschen mit funktionierendem Zünder offenbar in letzter Minute entschärft hatten. Möglich war das laut Collomb auch dank neuen den Überwachungskompetenzen, die aus dem Ausnahmerecht in die Rechtsordnung überführt würden.

Die Bevölkerung steht laut Umfragen mehrheitlich hinter der Verschärfung der Antiterrorgesetze. Die Franzosen gehen nach außen relativ stoisch mit der täglichen Bedrohung um. Früher undenkbare Polizeimaßnahmen wie das Öffnen des Kofferraumdeckels am Auto nehmen sie heute ohne Murren hin; außerdem begrüßen die meisten die Präsenz von Sicherheitskräften an öffentlichen Orten. Und ein Antiterrorgesetz kann für die Bevölkerung nicht scharf genug sein. Auch aus diesem Grund hatte das Macron-Lager leichtes Spiel, die rechtspolitischen Einwände einer Petition von 500 Juristen zurückzuweisen. (Stefan Brändle aus Paris, 4.10.2017)