Die spielerische Arbeit an den Zeichen der Menschen treibt Gerhard Rühm von jeher um: Aus dem Jahr 2014 stammt dieses "Musikalische Stimmungsbild".

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Ein Meister der modernen Sprachskepsis: Gerhard Rühm.

APA/Georg Hochmuth

Wien – Eine junge Musikstudentin soll in Tränen ausgebrochen sein, weil sie sich so ein Instrument nicht hätte leisten können: so ein Klavier, wie es die Künstler Gerhard Rühm und Friedrich Achleitner 1959 auf der Bühne zerstörten im Rahmen des "II. Literarischen Kabaretts" der Wiener Gruppe. Mit Axthieben legten sie den Flügel in Trümmer, der ihnen ein Symbol für das überkommene Kunstideal des Bürgertums war.

In Erinnerung gerufen bekommt man diese Aktion jetzt im Wiener Kunstforum. Fotografien der Klavierzertrümmerung bilden ein Vorzeichen zur dortigen Retrospektive über Gerhard Rühms Werk, einer Ausstellung, in der die Zerstörung eine wesentliche Rolle spielt. Unermüdlich war – und ist – der 1930 geborene Künstler darin, die Sprache zu zerlegen, auf dass sie ihre Geheimnisse, ja, ihr "Unbewusstes", preisgebe.

Grenzüberschreiter

Die Wiener Gruppe, die Rühm 1954 zusammen mit Achleitner, Konrad Bayer und Oswald Wiener gründete, steht in der ansprechenden Auswahl, die Kuratorin Heike Eipeldauer traf, nicht im Mittelpunkt. Foto- und Typografiecollagen, Zeichnungen, Videos des ungemein produktiven Künstlers sind zu sehen, Hörspiele oder Chansons kann man sich anhören. Tatsächlich war der Grenzüberschreiter Rühm von der Musik gekommen. Als Sohn eines Wiener Philharmonikers hatte er sich beim Klavier- und Kompositionsstudium für Jazz, aber auch Zwölftonmusik interessiert.

Und Ideen Arnold Schönbergs oder Alban Bergs waren es auch, die er dann auf Texte anwandte: deren Techniken, die der "Struktur" der Musik Vorrang gaben vor ihrer Schönheit – vor jenem Wohlklang, der zumal nach dem Zweiten Weltkrieg mit solcher Skepsis bedacht wurde. Wenn der Philosoph Theodor W. Adorno 1951 postuliert hatte, es sei "barbarisch", nach Auschwitz noch Gedichte zu schreiben, und damit allgemein auf den Missbrauch der schönen Künste durch die Nationalsozialisten anspielte, so hat sich Rühm dieser Barbarei gewiss niemals schuldig gemacht.

In "visuellen Gedichten", seinen Farbgedichten aus den 1950er-Jahren etwa, ordnete er Wörter nicht nach grammatikalischen Maßgaben an, sondern nach grafischen. Das Konzept, eine Anknüpfung an die Vorkriegsavantgarden, bestand darin, die Materialität der Sprache deutlich zu machen. Der Sinn eines Wortes ist nicht unabhängig von seiner Sinnlichkeit zu haben, also seinem Klang oder seiner Erscheinung: Dieser Einsicht folgten nicht nur Rühms lautmalerische Gedichte, sie prägt auch das im Kunstforum prominent gezeigte Körperalphabet. Gezeichnete menschliche Figuren bilden durch diverse Körperverrenkungen Buchstaben des Alphabets, wie um zu sagen: Zeichen haben einen Körper.

Sätze aus Bildern

Abseits dieser linguistischen Grundlagenforschung übte Rühm auch Medienkritik im engeren Sinne. Etwa in seinen Typocollagen, für die er Zeitschriftenlettern ausschnitt: In entleert-minimalistischen Blättern fügte er sie zu spröder Poesie, um die gemeinhin vom Leser nicht beachtete Wirkung der Typografie an sich spürbar zu machen. Ebenso verfuhr er mit Zeitschriftenbildern, die er in seinen Fotocollagen ähnlich den Wörtern in einem Satz anordnete, um die Syntax der Bilder zu erproben oder ad absurdum zu führen.

Die stets pointierten Konzepte, die er bei diesen puristischen Versuchsanordnungen nutzte, wandte Rühm unterdessen auch an, um das eigene Unbewusste aufs Papier zu holen, etwa in Zeichnungen, die er blind oder während des Einschlafens malte. Zwischenzeitlich sah das Konzept aber auch Betrunkenheit vor oder griff auf spiritistische Séancen zurück. Für eine Wurfzeichnung, ein mit winzigen Bleistiftstricherln übersätes Großformat, hatte er so lange den Bleistift gen Papier geworfen, bis er das winzige Rechteck in der Mitte traf.

Besonders schön sind jene Blätter, in denen trotz des strengen Konzepts ein Gefühl sich Bahn zu brechen scheint, wie etwa in den Leseliedern, für die Rühm auf Notenblättern Zeichnungen und Gedichte anfertigte. Man kann diese Texte für sich selbst performen, im Kunstforum aber auch lautstark tätig werden: Für jeweils drei Minuten dürfen geneigte Besucher laut Handlungsanweisung Rühms etwa auf einem bereitgestellten Klavier spielen. Einem ganz intakten, übrigens. (Roman Gerold, 5.10.2017)