Empörung – das ist die treibende Kraft im Konflikt um die Unabhängigkeitsbestrebungen Kataloniens. Die Katalanen schäumen, dass die spanische Zentralregierung ihrem Wunsch nach Eigenständigkeit so brutal entgegentritt, die Spanier – einschließlich ihres Königs – sind erzürnt, dass die Katalanen ohne Rücksicht auf die Verfassung den gemeinsamen Staat zu sprengen versuchen.

Die Emotionalität in dieser Krise mag auch Ausdruck der mediterranen Mentalität sein. In erster Linie aber ist sie die Folge eines tiefsitzenden Widerspruchs im Völkerrecht, der seit einem Jahrhundert ungelöst ist. Dieses erkennt sowohl das Selbstbestimmungsrecht von Völkern als auch die Unverletzbarkeit der Souveränität von Staaten an. Die Katalanen berufen sich auf Ersteres, die Spanier auf Letzteres. Beide sehen sich im Recht – und sind es in gewisser Weise auch.

Vermittler kann keine Lösung liefern

Viele blutige Kriege wurden im Kampf zwischen diesen beiden unvereinbaren Prinzipien geführt, und auch in Katalonien ist eine Eskalation der Gewalt vorstellbar. Ein internationaler Vermittler, der nun von vielen Seiten gefordert wird, kann die aufgeheizte Stimmung vielleicht beruhigen, aber keine echte Lösung liefern.

Da Sezessionsbestrebungen in einer globalisierten Welt zunehmen, wäre es deshalb an der Zeit, dass Völkerrechtsexperten ein Regelwerk schaffen, dem abspaltungswillige Regionen folgen könnten, ohne dass man einander die Schädel einschlägt. Dieses könnte dann von der EU, dem Europarat und sogar von der Uno als verbindliche Anleitung zur Lösung regionaler Konflikte übernommen werden.

Abspaltung möglich, aber mit Hürden

Wie könnte das aussehen? Grundsätzlich muss eine Abspaltung einer kulturell oder historisch eigenständigen Region auf demokratischem Weg möglich sein, unabhängig von der jeweiligen Verfassung. Aber es muss hohe Hürden dafür geben. Ein Referendum mit knapper Mehrheit oder geringer Beteiligung darf für solche grundlegenden Veränderungen nicht reichen.

Vorstellbar wäre etwa eine Auflage, dass sich in einer international überwachten Abstimmung zumindest 60 Prozent für die Unabhängigkeit aussprechen – und dass dies auch die absolute Mehrheit aller Wahlberechtigten repräsentiert. Teilregionen, in denen keine Mehrheit zustande kommt, müssten das Recht haben, beim Mutterland zu bleiben. Sind die Bedingungen des Ausstiegs einmal ausgehandelt, müsste ein weiteres Referendum – mit einer etwas niedrigeren Schwelle – folgen. Erst dann kann der neue Staat ausgerufen werden. Geht das zweite Votum negativ aus, muss erneut verhandelt werden – oder die Abspaltung findet nicht statt.

Die meisten würden scheitern

Die meisten Unabhängigkeitsbewegungen würden daran scheitern, wohl auch jene in Katalonien, wo gerade einmal 42 Prozent am Sonntag zur Abstimmung gingen. Auch in Kurdistan hätte es unter regulären Bedingungen kaum gereicht. Aber niemand könnte behaupten, der Zentralstaat verwehre einer Region ihre Rechte.

Statt ihre Anhänger anzustacheln, müssten nationalistische Politiker versuchen, eine breite Mehrheit für ihre Sache zu gewinnen. Viele solcher Bewegungen würden sich auch mit mehr Autonomie zufriedengeben. Doch stellt sich der Zentralstaat stur, dann wird ein völkerrechtlich anerkanntes Referendum zum starken Druckmittel.

Konflikte um Selbstbestimmung wird es weiterhin geben. Aber sie sollten demokratisch und fair ausgetragen werden – und nicht auf der Straße. (Eric Frey, 4.10.2017)