Die meisten Menschen, die es nach Europa geschafft haben, sind jung und gesund, belasten also die Gesundheitssysteme nicht, hieß es beim Cluster-Meeting "Migration and Health" in Brüssel.

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Es gibt Entwicklungen, die sich nicht aufhalten lassen. "Wir können schon dagegen sein, dass Menschen nach Europa kommen, aber es bringt nichts, es ist viel besser, sich auf den sozioökonomischen Wandel einzustellen", sagte Santino Severoni. Mit diesem pragmatischen Ansatz ist er als Repräsentant der WHO nach Brüssel zum Cluster-Meeting "Migration and Health" gekommen. So wie viele andere Teilnehmer im Saal fühlt er sich verantwortlich für die Gesundheit der Bevölkerung, und als jenem, der als Profi in diesem Bereich arbeitet, sind ihm die vulnerablen Mitglieder einer Bevölkerung immer das wichtigste Anliegen – und das unabhängig davon, ob es sich um Migranten oder Nichtmigranten handelt.

Die Stimmung im Saal ist vorsichtig zuversichtlich bei all jenen, die hierher gereist sind, um sich über den Stand der Dinge auszutauschen. Es sind NGOs aus ganz Europa, Mitglieder der WHO, öffentlicher Institutionen und Kommunen, die in diesem Forum von ihren Erfahrungen berichten, auch drei Vertreter von Migrantenorganisationen sind anwesend.

"Wir haben den großen Ansturm 2015 bewältigt, hatten dabei viele Lektionen zu lernen und sind jetzt dabei, die Menschen in die medizinische Regelversorgung zu integrieren", umriss Xavier Prats Monné, EU-Generaldirektor für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, die aktuelle Situation.

Wissen aus der Praxis

Was das genau bedeutet, führte dann Isabel la Mata, die EU-Koordinatorin, aus: "Wenn es um Migration geht, waren und sind eine Vielzahl von Institutionen befasst. Unsere zentrale Aufgabe ist es, die Kräfte innerhalb Europas zu bündeln", sagt sie und meint die Koordination der verantwortlichen Stellen, Zuständigkeiten und Konzepte, die allen europäischen Ländern gleichermaßen nutzen. Was die Situation in der Regelversorgung erschwert, ist die Tatsache, dass Gesundheit laut EU-Verfassung eine nationale Angelegenheit ist, das mache eine gemeinsame Strategie für jedes EU-Land zu einer freiwilligen Angelegenheit.

Am Cluster-Meeting wurden erfolgreiche Projekte und ihre Ergebnisse vorgestellt. Etwa die Initiative Mig Healthcare, ein Zusammenschluss von 40 Projektpartnern aus zehn Mitgliedstaaten, die gemeinsam nicht nur Erfahrungen, sondern auch Daten gesammelt haben. "Wir haben die Bedürfnisse der Migranten ermittelt, haben aber auch die Schwierigkeiten abgefragt, die Sozialarbeiter und andere Health-Workers mit Migranten haben", erzählt Pana Karnaki als Vertreterin von Mig Healthcare Griechenland. Auf dieser wissenschaftlichen Basis wolle man nun ganz konkrete Toolboxes entwickeln, die die Kommunikation erleichtern.

Zudem wisse man, was im Gesundheitsbereich gut funktioniert. Übersetzungsservices via Skype zum Beispiel, "allerdings nur, wenn der Arzt oder die Krankenschwester den Augenkontakt mit den Patienten halten und nicht auf den Bildschirm und damit die Übersetzerin starren." Das ist nur ein Beispiel von überaus praxisnahem Wissen, das in gesammelter Form verfügbar gemacht werden soll, 2018 soll das Projekt abgeschlossen sein.

Kulturelle Vermittler

"Transkulturelle Vermittlungsstrukturen sind im Gesundheitsumfeld relativ neu, haben sich aber als überaus erfolgreich erwiesen und verhindern langfristige Probleme", bestätigt auch Ines Oliviera-Souto vom katalanischen Gesundheitsinstitut, die in Brüssel ihrerseits das Projekt My Health als Best-Practice-Beispiel vorstellt. Die große Hürde ist die soziale Integration von Migranten in die unterschiedlichen Bereiche des Alltags. Zumal: Die Situation ist hochkomplex. Die europäischen Länder unterscheiden sich voneinander, was für Migranten eine Herausforderung ist. Und die Migranten wiederum kommen aus vollkommen unterschiedlichen Kulturkreisen, was für die meisten Europäer nicht klar ist. Fazit: Eine hochkomplexe Situation, für die es nicht einen einzigen Generalplan geben kann.

"Wir dürfen unsere eigenen Leute damit nicht alleinlassen", betont die Italienerin Lavinia Lo Curzio, Koordinatorin in Flüchtlingsfragen der sizilianischen Stadt Syrakus, und unterstreicht die Wichtigkeit von kulturellen Mediatoren, die eine zentrale Funktion im Kontakt mit den mehr als 15.000 Flüchtlingen in ihrer Heimatstadt haben. Durch sie konnten und können Probleme abgefangen werden.

Einer dieser Mediatoren ist der Syrer Massoud Al Hasan Haj Amin, der diese Aufgabe im Rahmen des Projekts "8 NGO in 11 States" übernommen hat. "Wer in Europa ankommt, kennt das System nicht, irrt durch verschiedene Institutionen. Man bekommt nie die ganze Information, die man braucht", berichtet er, und das verursache einen enormen Stress und Frustration.

"Kein Grund für Stigma und Angst"

Dass eine gelungene Integration die Basis für Frieden in Europa ist, davon ist EU-Gesundheitskommissar Vytenis Andriukaitis hundertprozentig überzeugt. "Es gibt überhaupt keinen Grund für Stigma und Angst", sagt er und betont, dass man sich vor Lügen wie jenen, Migranten würden Krankheiten einschleppen, wappnen muss. Diese Art der Panikmache würde von nationalistischen Kräften immer wieder lanciert und sei nichts "als die reine Unwahrheit".

Die meisten Menschen, die es nach Europa geschafft haben, sind jung und gesund, belasten also die Gesundheitssysteme nicht. In den vergangenen zwei Jahren wurden Migranten meistens nur wegen Erkältungen behandelt, dafür gibt es Daten.

Schwerere Verletzungen gebe es nur entlang der Flüchtlingsrouten. "Diese Verletzungen werden den Flüchtlingen durch Polizeigewalt beziehungsweise durch den Grenzschutz zugefügt, vor allem Minderjährige sind massiv gefährdet", berichtet der Belgier Benoit Kervyn de Meerendre von der Organisation Médecins du Monde. Es sei die Aufgabe der Gesundheitspolitiker in den betroffenen Staaten, sich in solchen Fragen mit den Innenministerien ihrer Länder zu verständigen, schlug Santino Severoni vor und meinte es ganz im Sinne von Health in All Policies.

Ungleichheit verhindern

Das Wichtigste in der jetzigen Phase sei, so Andriukaitis, das Prinzip der Gleichheit aller Menschen als gesellschaftlichen Wert des Kulturraums Europa zu verteidigen. Aus seiner Sicht besteht die Gefahr, dass sich durch die Migration getrennte Systeme entwickeln, auch deshalb sei die Aufnahme von Migranten in die Regelversorgung ein zentrales Anliegen.

Die gute Nachricht: "Gesundheitsservices haben das Potenzial, als Instrument für die Integration genutzt zu werden", betonte EU-Koordinatorin Isabel la Mata. Ein wichtiges Tool dabei ist unter anderem auch die Health Card, die Flüchtlingen bei ihrer Erstregistrierung in Europa ausgestellt wird. Auf dieser Karte werden – für die Gesundheitsbehörden wichtig – sämtliche Impfungen registriert. Das verhindert Doppelgleisigkeiten, die entstehen, weil Flüchtlinge ja oft durch einige europäische Länder reisen, bis sie an ihrem Ziel angelangt sind.

Als große Herausforderung für NGOs und die Gesundheitsbehörden wurde die psychische Gesundheit der Migranten identifiziert. Kriegserfahrungen, Fluchterlebnisse, die Ohnmacht im Flüchtlingslager, das Verdammtsein zur Illegalität – all diese Ereignisse haben das Potenzial, bei weniger robusten Charakteren psychische Probleme auszulösen. "Mental Health steht ganz oben auf unserer Roadmap, auch in diesem Bereich wollen wir Werkzeuge entwickeln, die beim Erkennen und Behandeln solcher Probleme eine Hilfestellung für Health-Worker sind", sagt Pana Karnaki und meint europaweit. (Karin Pollack, 6.10.2017)