Einatmen. Ausatmen. Das ist das, was mich für die nächsten zwei Stunden beschäftigen soll. Kein Facebook, kein Instagram. Kein E-Mail-Eingang und keine News. Und vor allem, und das ist besonders hart: kein Kopfkino.

Meditation heißt die Achtsamkeitspraxis, die ich seit circa vier Monaten übe und mit der ich dem permanenten Gedankenkreisen ein Ende setzen will. Gemeinsam mit neun anderen nehme ich dafür an einem Montagabend in einem Raum mit hohen Wänden im siebenten Bezirk in Wien in einer Art Schneidersitz auf einem roten Sitzpolster Platz. Auf den Atem achten, im Moment sein, viel mehr Anleitung gibt es für Meditation nicht. Ist einfacher, als es klingt. Aber dazu später.

Meditation ist eine alte spirituelle Praxis und Bestandteil aller größeren Weltreligionen. Maßgeblich dafür verantwortlich, dass sich auch säkulare Kreise für sie zu interessieren begannen, war der Molekularbiologe Jon Kabat-Zinn. Er entwickelte in den 1970er-Jahren an der University of Massachusetts ein achtwöchiges Programm namens Mindfulness-Based Stress Reduction (MBSR).

Kabat-Zinn wollte damit jenen helfen, die nicht auf klassische Therapien ansprachen. Seine Patienten waren Depressive, Krebspatienten und chronisch Kranke.

"Neue soziale Bewegung"

Lange wurde Meditation belächelt, als esoterisch abgetan. Mittlerweile gibt es zahlreiche wissenschaftliche Studien, die ihre Wirkung belegen. "Wir können mittels Meditation unsere körperliche und geistige Gesundheit beeinflussen", sagt die Neurowissenschafterin Brigitte Hölzel, die unter anderem in Harvard forscht.

Während es in traditionellen Ansätzen um Erleuchtung oder die Verbundenheit mit Gott geht, zielen säkulare vor allem auf eines ab: körperliches und psychisches Leiden zu verringern. "Die vorliegenden Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass Meditation relativ 'breit' wirkt", sagt Peter Sedlmeier, Psychologieprofessor an der TU Chemnitz.

Zahlreiche Zentren bieten inzwischen einschlägige Kurse an. Selbst an der Volkshochschule kann man Meditationstechniken erlernen. Und das Angebot hat Nachfrage. Der Soziologe Hartmut Rosa bezeichnet den Trend gar als eine "neue soziale Bewegung".

Meditation ist eine alte spirituelle Praxis. Längst ist sie in säkularen Kreisen angekommen. Der Soziologe Hartmut Rosa bezeichnet den Trend gar als eine "neue soziale Bewegung".
Foto: Pacific Press Agency/Erik McGregor

Auch in der Unternehmenswelt hat sie Fuß gefasst. Manager – wie etwa Arianna Huffington, Mitbegründerin der Huffington Post, oder Apple-Chef Tim Cook – bekennen sich dazu, regelmäßig zu meditieren. Google bietet seinen Mitarbeitern das Achtsamkeitstraining Search Inside Yourself an. Das Treffen der Wirtschaftselite beim World Economic Forum in Davos begann jeden Tag mit einer Mindfulness Meditation.

Herausforderung Nichtstun

Die Konzentration auf den Atem spielt bei Meditation eine zentrale Rolle. Dadurch soll es gelingen, Stress und negative Gefühle zu reduzieren. Es gilt darüber hinaus, Beobachterin oder Beobachter der eigenen Gedanken und Gefühle zu werden. Sie weder sofort zu bewerten noch eins mit ihnen zu werden, sondern sie zu betrachten wie Wolken am Himmel.

Das versuche ich in meiner montäglichen Praxis umzusetzen. Der abendliche Einkauf: eine kleine Wolke. Der Artikel, für den ich noch einen Titel suche: eine größere. Fette Wolken, die immer wieder auftauchen, sind Ängste und Selbstzweifel.

Meditationstechniken zielen darauf ab, schlechte Gedanken und Gefühle als momentanen Zustand zu sehen, der auch wieder vergeht. Einen Moment der Kontrolle zwischenzuschalten zwischen Reiz und Reaktion. Der amerikanische Psychiatrieprofessor Arthur Deikman, der selbst meditierte, bezeichnet das als De-Automatisierung psychischer Prozesse. Durch sie gelingt es idealerweise, sich nicht sofort in jede Angst, in jeden Zweifel hineinzusteigern, sondern sie wahrzunehmen und auf Distanz zu halten. Bei der Angst vor Spinnen soll das ebenso helfen wie bei der Präsentation der Projektergebnisse vor dem Chef.

Dass es oftmals funktioniert, zeigt ein Experiment mit Studierenden der University of Arizona: Meditierende hatten besser als Mitglieder der Kontrollgruppe gelernt, mit negativen Gefühlen umzugehen. Auch dänische Forscher wiesen nach, dass die MBSR-Methode von Kabat-Zinn die psychische Gesundheit stärkt. Sie entspanne Gestresste und beruhige Angstpatienten.

Sehnsucht nach Ablenkung

Schon kurz nachdem ich auf dem Sitzpolster Platz genommen habe, kommt in mir Widerstand auf. Fast fühlt er sich schmerzhaft an. Ich will nicht mehr aufrecht sitzen. Ich will aufstehen. Aufstehen und den Raum verlassen, weg von dieser Matte, raus aus dieser Ruhe. Meine Gedanken spielen verrückt, kreisen wahllos um eine Sorge nach der anderen.

Dass beim Meditieren unangenehme Gefühle aufkommen können, sei normal, schreibt Experte Sedlmeier in seinem Buch über wissenschaftliche Erkenntnisse zum Thema. "Nur dazusitzen und 'nichts zu tun' wird als unangenehm empfunden", sagt er .

Ich sehne mich nach äußeren Reizen, die mich ablenken. Danach, meine Facebook-Timeline runterzuscrollen, Instagram zu öffnen, meine E-Mails zu checken, eine Freundin anzurufen. Ich will Action. Nur noch raus hier. Aber ich bleibe doch.

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Bei der Meditation wird häufig dazu geraten, Gedanken als Wolken zu sehen, die man vorbei ziehen lassen kann. Das soll dabei helfen, sich weniger leicht in Ängste und Sorgen hineinzusteigern.
Foto: AP/Jens Buettner

Wer regelmäßig meditiert, lernt, nicht jedem Impuls nachzugeben. Die Konzentration steigt, wie Wissenschafter mittels Elektroenzephalografie feststellen konnten. Offenbar sind während tiefer Meditation die Wellen im Beta- und Gamma-Bereich stärker synchronisiert als im normalen Wachzustand – ein Zeichen für stabile Aufmerksamkeit.

Die Praxis trifft in einer Zeit der ständigen digitalen Ablenkung einen Nerv. Die Belohnung ergibt sich nicht länger aus dem Dopamin, wie es etwa beim Eintreffen einer neuen Nachricht ausgeschüttet wird, sondern aus der gewonnenen Aufmerksamkeit. Multitasker könnten lernen, sich wieder nur auf eine Sache zu konzentrieren. Oder einfach nur auf sich selbst.

Denn das ist ein weiterer angeblicher Nutzen von Meditation: seinen Körper wieder stärker wahrzunehmen. Dazu schickte Entwickler Kabat-Zinn seine Patienten mit dem Body-Scan auf eine Reise durch den Körper. Die Aufmerksamkeit wird dabei bewusst auf einen Körperteil nach dem anderen gelenkt.

Mir reicht schon die Abwesenheit sämtlicher Ablenkungen, um bewusster wahrzunehmen, wie sich meine Brust beim Atmen auf und ab bewegt, wie meine Bauchdecke sich hebt und senkt. Ich spüre, wie meine Unterschenkel auf der Matte aufliegen, die Innenseiten meiner Hände die Oberschenkel berühren. Ich fühle mich erschöpft. Oder anders gesagt: Ich nehme wahr, wie erschöpft ich mich eigentlich fühle. Zum ersten Mal heute. Ich realisiere, dass mein Nacken verspannt ist und mein Bauch zwickt.

Dass diese einfachen Empfindungen im (Arbeits-)Alltag häufig vernachlässigt werden, ist das Resultat einer Leistungskultur, die sich kaum mehr Pausen gönnt. Soziologe Rosa spricht von einem "Steigerungsspiel": "Damit wir in den nächsten Jahren noch denselben Platz in der Welt haben, müssen wir ständig zulegen", sagte er der Zeitschrift "Spiegel". Die Wirtschaft müsse ebenso performen wie der Einzelne. Das Zeitgefühl ist: immer schneller, immer höher und immer weiter, im doppelten Sinn. Das kann krankmachen, da braucht es Gegenstrategien.

Tai-Chi und Qigong

Idealerweise meditiert man anfangs zweimal täglich zehn Minuten zu Hause, raten Experten. Die Dauer lasse sich langsam steigern. Neben der klassischen Sitzmeditation, bei der man sich auf den Atem konzentriert, gibt es noch andere Techniken. Kombiniert wird das Sitzen beispielsweise häufig mit einem bewussten Gehen. Sportarten wie Tai-Chi und Qigong sind ebenfalls Formen der Meditation in Bewegung.

Eine zentrale Technik ist außerdem das Kultivieren positiver Gefühle. Wiederholt werden dabei sogenannte Mantras, "heilige" Wörter oder Wortgruppen. Das bekannteste Mantra ist wohl die Silbe Om. Der Klang steht für den transzendenten Urklang, aus dessen Vibrationen nach hinduistischem Verständnis das gesamte Universum entstand.

Nach dreißig Minuten Praxis muss ich mich zusammenreißen, nicht in einen Dämmerzustand zu verfallen. Es geht ums Dasein, nicht ums Wegdämmern, erinnere ich mich. Tatsächlich bildet sich zeitweise eine Art von gedanklichem Vakuum. Es sind einige Sekunden, in denen ich keinen konkreten Gedanken fasse. Wenn Gedanken Wolken sind, ist das quasi einige Sekunden wolkenloser Himmel. In einer dieser Gedankenpausen fällt mir plötzlich ein Titel für meinen Artikel ein.

Weit kreativer

Was möglich wird, wenn man es schafft, aus Gedankenschleifen zeitweise auszusteigen, beschreiben Psychologen im Fachblatt "Psychiatry Research". Im Rahmen einer Studie untersuchten sie das Gehirn von Probanden nach einem Meditationskurs. Sie spielten ihnen bestimmte Töne vor und maßen die elektrische Aktivität der Hirnzellen. Das Ergebnis: Im Vergleich zu einer Kontrollgruppe reagierte das Gehirn nach dem Kurs deutlich stärker auf die akustischen Reize. Es hatte gelernt, nicht mehr andauernd zu grübeln – und brachte die frei gewordenen Ressourcen den Tönen entgegen.

So soll Meditation schließlich auch Zugriff auf das ermöglichen, was derzeit als die Hauptquelle für Innovation gesehen wird: Kreativität und Intuition.

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Ich sehne mich nach äußeren Reizen, die mich ablenken. Danach, meine Facebook-Timeline runterzuscrollen, Instagram zu öffnen, meine E-Mails zu checken, eine Freundin anzurufen. Ich will Action. Nur noch raus hier. Aber ich bleibe doch.
Foto: Getty Images

Während ich dasitze, schweift mein Blick aus dem Fenster. Mir fällt ein, dass ich noch neue Kontaktlinsenflüssigkeit kaufen muss. Wann sperren die Geschäfte zu? Ich denke an den Steuerausgleich, das Meeting am nächsten Tag, wie ich meinen Feierabend verbringen werde. Will ich laufen gehen? Oder doch lieber auf ein Bier an den Donaukanal? Wirklich ein Luxusproblem, über so etwas nachdenken zu können, denke ich dann. Viele haben wesentlich schwerere Entscheidungen zu treffen. Ich denke an den Radiobeitrag über alleinerziehende Mütter. Aber nicht nur sie haben kaum Zeit für sich selbst. Schon mit einem Kind in einer klassischen Familienkonstellation stelle ich es mir schwierig vor, Abende für sich freizuschaufeln. Wie werde ich das einmal bewerkstelligen? Dann rufe ich mir wieder ins Bewusstsein: Das Einzige, was jetzt zählen sollte, ist das Hier, der Moment.

Was als Nächstes denken?

Sich ständig gedanklich in der Vergangenheit und in der Zukunft zu verlieren, koste unnötig Kraft, heißt es in Büchern über Meditation. "Es gibt nur zwei Tage, an denen man nichts tun kann: gestern und morgen", wird der Dalai Lama häufig zitiert. Vergangenheit und Zukunft – das eine passé, das andere noch nicht eingetreten – seien beides nur Illusionen. Die Frage "Was werde ich als Nächstes denken?" soll bei der Konzentration auf den berühmten Moment nützlich sein.

Ich verlasse den Raum, das Studio und gehe die Mariahilfer Straße entlang in Richtung meiner Wohnung. Der Himmel hat sich inzwischen verdunkelt. An einer Ecke singt ein Straßenmusiker melancholisch "Yesterday". Mein Vorher und mein Nachher sind nun tatsächlich ein bisschen weiter weg. So wohltuend kann "Nichtstun" also sein. (Lisa Breit, 17.10.2017)