Leïla Slimani gewann mit ihrem psychologischen Thriller "Chancon douce" 2016 bereits den Prix Goncourt.

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Leïla Slimani, "Dann schlaf auch du". € 20,60 / 224 Seiten. Luchterhand- Verlag, 2017

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Das soll die Frau sein, die über Kindsmord, Nymphomanie und sexuelle Gewalt schreibt? Lächelnd, natürlich und mit schlichter Eleganz grüßt Leïla Slimani in einem Bistro des neunten Stadtbezirks von Paris. Die Autorin des Bestsellers Dann schlaf auch du – in dem eine Nanny die zwei ihr anvertrauten Kinder umbringt – musste den Interviewtermin kurzfristig aus ihrer nahegelegenen Wohnung verlegen: Letztere wurde gerade von ihrem Neugeborenen und ihrem Gatten beansprucht. Und sobald das Gespräch zu Ende ist, muss Leïla Slimani rasch wieder zurück zur vierköpfigen Familie – mangels Nanny.

Die 35-jährige Franko-Marokkanerin hat 2016 den "Goncourt" erhalten, den wichtigsten Literaturpreis Frankreichs. In Rabat als Tochter einer Elsässerin mit algerischen Wurzeln sowie einem marokkanischen Banker aufgewachsen, kam sie als Studentin nach Paris, wo sie bis heute lebt. Zuerst arbeitete sie als Journalistin für die Zeitschrift Jeune Afrique; 2014 erschien ihr erster Roman Dans le jardin de l'ogre. Diese Geschichte über die sexuelle Abhängigkeit einer Französin in Marokko wird derzeit ins Deutsche übersetzt. Dasselbe gilt für ihr jüngstes, in Paris erschienenes Werk Sexe et mensonges. Es thematisiert das Tabuthema der sexuellen Misere in der marokkanischen Gesellschaft in Gesprächen mit jungen Frauen. Der Inhalt erscheint auch in Comicform.

STANDARD: Frau Slimani, in "Dann schlaf auch du" beschreiben Sie einen schrecklichen, gleich doppelten Kindsmord durch eine Nanny. Was war Ihr Tatmotiv?

Slimani: Diese Tat hatte sich in der Upper East Side von New York wirklich ereignet, doch sie interessierte mich nur als Ausgangspunkt. Mich faszinierte die äußerst komplexe und ambivalente Beziehung zwischen einem Ehepaar und der Frau, die dessen Kinder hütet und damit als bloße Angestellte in die Intimität einer Familie eindringt. Es ist die zeitlose, universelle Geschichte des Fremden, der in ein bestehendes Universum tritt und es über den Haufen wirft. Universell auch in dem Sinn, dass alle Mütter auf der Welt wohl diese Angst empfinden, wenn sie ihre Kinder einer "Nounou" (Französisch für Tagesmutter, Anm.) überlassen.

STANDARD: Sie selbst hatten auch schon eine Nanny ...

Slimani: Schon, aber mir ging es nicht um meine eigene Erfahrung.

STANDARD: Sie beginnen wie in einem Krimi mit der Tat ("Das Baby ist tot"), lösen den Fall aber bis zum Schluss nicht auf. Warum?

Slimani: Es ist nicht die Rolle eines Schriftstellers, dem Leser den Schlüssel mitzugeben, die Motive der handelnden Personen zu erklären oder sie zu beurteilen; er schreibt vielmehr, was in der Seele vorgeht, er zeigt die fehlenden Zusammenhänge und die Widersprüche auf. Deshalb wollte ich die Dinge bis zum Schluss in der Schwebe lassen. Die Leser können sich selbst Fragen stellen, ihre eigenen Schlüsse ziehen.

STANDARD: Sie gehen aber noch weiter und lassen die Leser fast teilnehmen an dem Fall.

Slimani: Ich möchte, dass die Leser aktiv werden, dass sie sich fast wie der Ermittler fühlen. Sie sollen zum Beispiel denken: "Hier gleitet die Mutter ab" oder "Das hätte der Vater nicht sagen dürfen".

STANDARD: Die Hauptperson ist aber klar die Nanny.

Slimani: Ja, denn das ist doch das Unglaubliche: Die Tagesmütter leben nicht ihr eigenes Leben, sie halten sich in Häusern auf, die ihnen nicht gehören, sie sorgen für Kinder, die nicht die ihren sind. Sie geben ihnen zu essen, verfolgen mit, wenn der Kleine das erste Mal aufsteht, sie fühlen mit. In Wahrheit ist es aber nur ein Rollenspiel, bloßer Schein, mit sehr ambivalenten Gefühlen. Das ist schon sehr romanesk.

STANDARD: Wie sind Sie zu dem Thema gekommen?

Slimani: Nach und nach. Ich habe mich an meine Kindheit in Marokko erinnert, wo es Kindermädchen gab. Hier in Paris hatte ich selbst eines; und während des Schreibens habe ich oft Parks besucht, um diese Frauen zu beobachten.

STANDARD: Einen Kindsmord zu inszenieren – hat das nicht etwas Reißerisches?

Slimani: Nein, in der Geschichte geht es nicht um die Gewalttat, sondern um die Personen, ihr Leben, ihre Beziehung. Zudem war dieses Ereignis real, und ich halte es für eine gute Sache, wenn ein Autor die Hintergründe dieser Gewalt ausleuchtet.

STANDARD: Den Eltern wird in "Dann schlaf auch du" grausam zugesetzt. Doch sind sie selbst unschuldig?

Slimani: Auch diese Frage sollen die Leser beantworten.

STANDARD: Wie würden Sie das Verhalten der Eltern gegenüber ihrer Angestellten bezeichnen? Herablassend?

Slimani: Ich würde eher "ungeschickt" sagen. Diese Eltern sind unbeholfen gegenüber der Tagesmutter – einmal zu freundlich, dann wieder zu kalt. Sie tun ihr Möglichstes, wissen aber oft nicht, wie sie mit der komplexen Situation umgehen sollen. Sie sind zwar progressiv eingestellt, aber zugleich müssen sie befehlen.

STANDARD: Ist es auch eine emotionelle Ungeschicktheit – von Bobos, die ja sonst beruflich und sozial erfolgreich sind, dazu aufgeschlossen und intelligent?

Slimani: Ich glaube nicht. Eher wissen sie nicht, wie sie mit der Rolle der Nanny umgehen sollen: Sollen sie sie in die Familie integrieren, in die Ferien mitnehmen – oder eher eine Grenze ziehen und das Angestelltenverhältnis betonen?

STANDARD: Sie beschreiben eine überforderte Mutter. Nicht gerade das Bild, das man außerhalb Frankreichs von der viel beschäftigten Pariserin hat, die mit Arbeit, Familie und Freizeit jongliert.

Slimani: Das ist ein Mythos. Hinter diesem oft idealisierten Bild beschreibe ich die Realität – die Ängste und das Gefühl, nicht genug Zeit für die Kinder zu haben, eine schlechte Mutter zu sein, einen schlechten Job zu machen.

STANDARD: Das von Ihnen beschriebene Umfeld ist das der Bobos, der jungen, aufgeschlossenen Gutverdiener im neunten Bezirk von Paris, wo Sie selbst leben. Haben Sie als Marokkanerin, als Dazugekommene, eine spezielle Sicht auf dieses sehr pariserische Milieu?

Slimani: Ich glaube nicht – jede Marokkanerin, jede Anwohnerin gäbe da wohl eine andere Antwort.

STANDARD: Aktivistinnen aus Immigrationskreisen werfen Ihnen vor, Sie würden Ihre Wurzeln verneinen und hätten die westliche Sicht einer "weißen Französin" übernommen. Was antworten Sie?

Slimani: Gar nichts. Das interessiert mich nicht, mir geht es ums Schreiben.

STANDARD: Was Sie hingegen brennend interessiert, sind die gesellschaftlichen Verhältnisse in Marokko. Davon handelt Ihr neues Buch "Sexe et mensonges" ("Sex und Lügen", erscheint auf Deutsch 2018; Anm.). Worum geht es darin?

Slimani: Nach Erscheinen meines ersten Buches zum Thema Sexualität ("Dans le jardin de l'ogre", wird derzeit ebenfalls ins Deutsche übersetzt; Anm.) haben mich viele Marokkanerinnen kontaktiert, und ich habe ihre Berichte journalistisch aufbereitet. Es sind Berichte über den unterdrückten, heuchlerischen Umgang mit Themen wie Sex vor der Ehe, sexueller Misere und Vergewaltigungen, Homosexualität oder mangelnde Sexualerziehung.

STANDARD: "Le Monde" titelte zu Ihrem neuen Buch: "In Marokko von Sex zu sprechen ist politisch." Einverstanden?

Slimani: Das Buch hält die universellen Werte hoch und verteidigt die Menschenwürde. Es ist eher humanistisch und feministisch als politisch.

STANDARD: Was sagen Sie zum Vorwurf, Ihre offene Sprache und Ihre Hardcore-Themen wie Kindsmord, Sex, Nymphomanie seien eine Provokation für die konservative marokkanische Gesellschaft?

Slimani: Diesen Vorwurf höre ich kaum. Nach den jüngsten Nachrichten – zuletzt eine Vergewaltigung in einem Bus in Casablanca – merken die Leute im Gegenteil, dass es nötig ist, endlich über die sexuelle Misere im Land zu sprechen, statt immer alles unter den Teppich zu kehren.

STANDARD: Ist es ein antireligiöses Buch?

Slimani: Ist es antireligiös, zu fordern, dass die Würde aller Frauen und Männer gewahrt wird? Einige versuchen, uns als antireligiös hinzustellen, doch das zieht nicht.

STANDARD: In Marokko sieht man mehr Kopftücher denn je. Wird die Lage moderner Frauen schwieriger?

Slimani: Ich glaube nicht. Mag sein, dass man wenig Bikinis sieht. Früher sah man gar keine Frauen am Strand – oder nur reiche Städterinnen. Heute gehen Marokkanerinnen aus, sie arbeiten.

STANDARD: Wenn eine junge Marokkanerin aber einen Minirock trägt, riskiert sie einiges.

Slimani: Das stimmt. Aber viele tun es trotzdem. Sie haben Mut.

STANDARD: Können Sie selbst gefahrlos nach Marokko reisen?

Slimani: Warum nicht? Ich habe ja nichts angestellt! Natürlich gibt es Islamisten, die meine Meinungen nicht teilen. Sie haben ihre Standpunkte, kandidieren bei Wahlen, das ist ihr gutes Recht. Genauso wie ich das Recht habe, zu schreiben, was ich will.

STANDARD: Durch all Ihre Werke zieht sich der Anspruch der Freiheit. Ist das für Sie ein Begriff, der mit Frankreich verbunden ist?

Slimani: Das Wort Freiheit geht für mich auf meine Eltern zurück. Es war das erste Wort, das ich von ihnen behalten habe. Zuerst die Freiheit der anderen zu respektieren, aber dann auch seine eigene Freiheit, schöpferisch zu sein. (Stefan Brändle, Album, 7.10.2017)