Iris Radisch
Warum die Franzosen so gute Bücher schreiben
Von Sartre bis Houellebecq
Rowohlt 2017
240 Seiten, 20,60 Euro

Foto: Rowohlt

Mehrere Hunderttausend Menschen säumen am 19. April 1980 die Straßen des 14. Pariser Arrondissements, durch das sich ein blumengeschmückter Kleinbus seinen Weg bahnt. Der Verkehr ist an diesem Samstagnachmittag angehalten worden, auf den Terrassen der Cafés verbeugen sich die Kellner vor dem vorbeifahrenden Leichenwagen.

Am Friedhof Montparnasse, wo man Jean-Paul Sartre, der vier Tage zuvor im 75. Lebensjahr verstorben ist, zur letzten Ruhe bettet, kommt es zu tumultartigen Szenen, die beim Tod eines deutschsprachigen Autors kaum vorstellbar wären. Menschen sitzen auf den Friedhofsmauern und auf Gräbern, einer stürzt in die offene Grube, Simone de Beauvoir, mit der Sartre 50 Jahre liiert war, kann dem Sarg im Gedränge nur mit Mühe folgen. Kennengelernt hatten sich die beiden 1929 an der École normale supérieure, die sie als Jahrgangsbeste absolviert hatten. Ihr Liebesarrangement ohne Monogamie, ohne Heimlichkeiten wird durch Beauvoirs fünfbändige Memoiren in die Literaturgeschichte eingehen.

Die Liebe übrigens, besser gesagt das ungewöhnlich komplizierte Liebesleben, dem man in Frankreich fröne, sieht Irisch Radisch als eine der möglichen Antworten auf die Frage Warum die Franzosen so gute Bücher schreiben, die die Feuilletonleiterin der Zeit in einem Buch zu klären sucht. Wobei es, was die Liebe betrifft, von de Sade über Georges Bataille, Marguerite Duras (Die Krankheit Tod, übersetzt von Peter Handke!) bis zu Catherine Millet, die Radisch nicht unbedingt zu den Spitzen der französischen Literaturproduktion zählt, auch mal pornografisch zugehen darf.

Außenseiter

Natürlich hält Radischs Buch auch elaboriertere Thesen bereit, warum die französische Literatur der deutschen – denn das impliziert ihre Fragestellung – überlegen sein könnte. Etwa dass die französische "Nachkriegsliteratur der Außenseiter" – Radisch zählt dazu u. a. Henri Michaux, Georges Bataille, die Rumänen Ionesco und Cioran sowie die aus vornehmem Haus stammenden Françoise Sagan und Julien Green – gehörig auf die Tube drückten. Radisch: "Die französische Nachkriegsliteratur der Außenseiter suchte das Unbedingte (….), begegnete den Teufeln der Sünde und des Unbewussten und rüttelte an den Gitterstäben des Absurden, um eine Welt hinter der Verstandeswelt zu entdecken."

Während die Franzosen in jenen Jahren ihre Lebenssinnsuche mit Verve betrieben, hielt sich die deutschsprachige Literatur damals mit dem "Kleingedruckten des Lebens" auf, so Radisch. Sie spielt damit auf Bücher von Frisch bis Martin Walser an, in denen Berufe ausgeübt, Häuser gebaut, Kinder gezeugt werden.

Gerade dass französische Autoren in ihrem Abtasten der Nachtseiten der Existenz weder vor Grenzüberschreitungen noch der Verletzung der Political Correctness zurückschrecken, macht für Radisch einen Teil der Faszination dieser Literatur aus. Sie denkt dabei weniger an Jonathan Littell und seinen SS-Roman Die Wohlgesinnten, aber viel an Houellebecq, den Algerier Boualem Sansal, der in 2084 eine künftige islamische Glaubensdiktatur entwirft (allerdings eine weniger sanfte als die in Houellebecqs Unterwerfung), und sie denkt an den ebenfalls algerischstämmigen Kamel Daoud, der mit seinem Roman Der Fall Meursault Albert Camus’ Weltsicht hinterfragt.

Leidenschaften

Neben einem weiter geöffneten literarischen Visier konstatiert Radisch in der französischen Nachkriegsliteratur auch eine größere Leidenschaft für das Gesellschaftliche und zudem seit den Sartre-Jahren eine clevere Literatur politik, die die Autoren nicht den Massenmedien überlassen, indem sie eigene Gruppen bilden, Zeitschriften gründen, sich in Lokalen treffen und vernetzen.

Aufgebaut ist Warum die Franzosen so gute Bücher schreiben chronologisch. Das Buch beginnt mit der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit, also mit den Existenzialisten um Sartre und Camus, deren Freiheitsethik ironischerweise ohne Hegel, Husserl und Heidegger (im Falle Sartres) und Nietzsche (Camus) nicht denkbar wäre. Es folgen Kapitel über literarische Gegenpositionen. Etwa den Nouveau Roman, dessen systematische Sachlichkeit und Kälte in den gaullistischen 1950er-Jahren nichts mit Realismus zu tun hatte. Seinen Vertretern Alain Robbe-Grillet, Nathalie Sarraute, Michel Butor und Claude Simon sowie auch Beckett, der sich weigerte, der Gruppe anzugehören, sind schöne Passagen gewidmet. Es folgen Kapitel über die Studentenunruhen in den 1960ern, in denen sich Patrick Modiano anschickte, an dem Tabu der französischen Kollaboration im Weltkrieg zu rühren.

Lange blieb die französische Literatur mit Ausnahme von Camus thematisch stark auf Paris zen triert, doch die kolonialen Ränder und ihre Geschichten werden bald über die Metropole hereinbrechen: mit Autorinnen wie Assia Djebar (Algerien), Marie NDiaye (Tochter eines senegalischen Vaters), dem auf Mauritius lebenden J.-M. Le Clézio, Aimé Césaire (Martinique), Mathias Énard, der lange im Mittleren Osten lebte, Yasmina Reza (Pariserin mit iranischem Vater und ungarischer Mutter) und dem auf La Réunion geborenen Michel Houellebecq, den Radisch kritisch würdigt.

Die letzten drei diesen Autoren gewidmeten Kapitel zeichnen ein lebendiges Bild der neuesten französischen Literatur. Lesen lässt sich Warum die Franzosen so gute Bücher schreiben daher als gut geschriebener Überblick, als subjektive Literaturgeschichte und als mit Fußnoten versehener Langessay. Der kleine Kanon mit lesenswerten Büchern am Ende wäre nicht nötig gewesen, Claude Simons Roman Das Seil über eine "der Wegweiser beraubte Welt" hingegen, da hat Radisch recht, hat man sich wiederzulesen vorgenommen. (Stefan Gmünder, Album, 7.10.2017)