Kein Mann seiner Zeit, sondern ihr weit voraus: Wissenschafter und Schriftsteller Lévi-Strauss.

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Für ihre Lévi-Strauss-Biografie wurde Emmanuelle Loyer 2015 mit dem Prix Femina essai ausgezeichnet.

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STANDARD: Der Begründer des Strukturalismus, ein weiser und besonnener Gelehrter, eine Gestalt, die ein ganzes Jahrhundert durchmisst, und schließlich ein nationales Monument – das war Claude Lévi-Strauss. Wie war es für Sie, sich ihm zu nähern?

Loyer: Bereits mit einem früheren Buch kreuzte ich seine "Flugbahn". Ich porträtierte französische Intellektuelle im amerikanischen Exil, darunter Lévi-Strauss, der 1941 nach New York emigriert war. Aus diesem Anlass traf ich ihn. Er war damals 92 und eine faszinierende Erscheinung. Den Vorschlag, seine Biografie zu schreiben, nahm ich sofort an. Es wurde ein großartiges biografisches Abenteuer.

STANDARD: Bevor Lévi-Strauss 2009 starb, vermachte er sein persönliches Archiv der Bibliothèque nationale de France. 261 Kästen füllte dieser Nachlass. Hinzu kommen das viele Tausend Seiten umfassende Werk sowie eine unübersehbare Menge an Büchern und Artikeln über ihn. Ist eine solche Materiallage nicht erdrückend?

Loyer: Lévi-Strauss hinterließ in der Tat viele Spuren. Sein Nachlass umfasst Korrespondenzen, Vorbereitungen für seine Vorlesungen sowie die Notizbücher seiner Expeditionen. Wie ein Gelehrter des 18. Jahrhunderts sammelte er Wissen. Dabei arbeitete er mit einem Zettelkasten, den er sein ganzes Leben hindurch führte. All dies ermöglichte mir viele neue Einsichten. Lévi-Strauss wurde häufig als der Gelehrte wahrgenommen, der in der Abgeschiedenheit die abstrakte Theorie des Strukturalismus schuf. Das war er auch, die Hälfte seiner Zeit. An den Nachmittagen arbeitete er bei sich zu Hause an seinem Werk. Vormittags aber engagierte er sich tatkräftig als institutioneller Unternehmer der Ethnologie, setzte sich ein für kollektive Recherchen und wirkte mit am Aufbau von Sammlungen.

STANDARD: Ein "biografischer Zwischenfall", ausgelöst von einem Telefonat 1934 und dem Angebot, nach Brasilien zu reisen, habe Lévi-Strauss zur Ethnologie gebracht. War das nur Zufall?

Loyer: Nein. Lévi-Strauss interessierte sich schon früh für Ethnologie. In Südamerika freundete er sich mit Jacques Soustelle an, der sich ebenfalls nach seinem Philosophiestudium für Ethnologie entschied. Lévi-Strauss empfand die Philosophie als beengt und trocken. Die Ethnologie bezeichnete er als "Hintertür", die ihn in Kontakt mit dem Leben brachte. 1935 unternahm er seine erste ethnografische Expedition ins Mato Grosso zu den Caduveo und Bororo. 1938 folgte eine weitere Expedition ins Innere Brasiliens zu den Nambikwara und Tupi.

STANDARD: Für die Expedition 1938 kaufte Lévi-Strauss zuvor in Paris Glasperlen, um den Indianern Kunstwerke abzutauschen. Ist ein solches koloniales Verhalten nicht gerade von ihm befremdlich?

Loyer: Die Ethnologie der Zwischenkriegszeit bestand aus dem Sammeln von Objekten. Lévi-Strauss wusste um den kolonialen Zusammenhang. Michel Leiris zum Beispiel berichtete darüber, wie er bei seinen Forschungen in Afrika von den kolonialen Strukturen profitierte. Nun ist Brasilien seit dem 19. Jahrhundert ein unabhängiger Staat. Dennoch hatte Lévi-Strauss Skrupel wegen der Tauschgeschäfte. Das betont er auch in Traurige Tropen.

STANDARD: Es sei die "mythisch" gewordene Begegnung zwischen Lévi-Strauss und Roman Jakobson, der die Geburt des Strukturalismus zu verdanken sei. War sich Lévi-Strauss dessen sofort bewusst?

Loyer: Lévi-Strauss empfand die Bekanntschaft mit Jakobson als "Erweckung". Er verwendete dafür auch diesen religiösen Ausdruck. Die beiden begegneten einander im New Yorker Exil. Sie waren an der École libre des hautes études tätig, einer französischen Exiluniversität, gegründet für Akademiker, die 1940 ihr Land verlassen mussten. Jakobson war Philologe und Linguist, er befasste sich mit strukturalistischer Linguistik. Im Rückblick nannte sich Lévi-Strauss einen naiven Strukturalisten. Ohne es zu wissen, habe er den Strukturalismus praktiziert.

STANDARD: Was übernahm Lévi-Strauss von Jakobson?

Loyer: Jakobson brachte ihn auf die Idee, Verwandtschaftssysteme wie eine Sprache aufzufassen. In der Sprache erhalten Phoneme ihren Sinn erst durch ihre Stellung gegenüber anderen Sprachelementen. Ebenso lässt sich ein Verwandtschaftssystem erst durch die Beziehungen zwischen den einzelnen Positionen in der Abstammung und der angeheirateten Verwandtschaft erklären. Lévi-Strauss entwickelte aus den Regeln und Systemen eine Grammatik der Verwandtschaft.

STANDARD: Mehrfach betonen Sie die Bedeutung der Psychoanalyse für Lévi-Strauss' Werk. Ist diese Verbindung eine Neuheit, die Lévi-Strauss in die Ethnologie einbringt?

Loyer: Lévi-Strauss las bereits in jungen Jahren die Texte von Freud. Er nahm sie als Quelle der Inspiration für seine strukturale Analyse. Sie führten ihm vor Augen, wie sich selbst absurde Phänomene rational analysieren lassen. So sah er zum Beispiel Parallelen zwischen seiner Arbeit und Freuds Traumdeutung. Freud verstand den Traum als kodierten Text, der für seine Deutung umformuliert werden muss. Ähnlich ist der Mythos zu begreifen. Er bedarf ebenfalls der Umformung, um verständlich zu werden. So wie Freud den Sinn und die Wahrheit der Träume zeigt, die beim Erwachen irrational oder absurd erscheinen, so zeigt der Strukturalismus den Sinn der mythischen Texte, die zunächst ebenfalls absurd erscheinen.

STANDARD: An einigen Stellen Ihrer Biografie schreiben Sie, dass Lévi-Strauss klaustrophob war ...

Loyer: Das erzählte mir seine Witwe. In Aufzügen oder geschlossenen Räumen hielt er es kaum aus. Er brauchte frische Luft. Auch das Wissen lüftete und befreite er. Er hatte eine wunderbar reiche Beziehung zur Natur. Im deutschen Sprachraum haben Sie die Tradition der Romantik. In Frankreich kennen wir das nicht. Für einen französischen Intellektuellen oder Künstler war Naturverbundenheit etwas Besonderes.

STANDARD: Dachte er jemals daran, sich deswegen einer Analyse zu unterziehen?

Loyer: Zur Psychoanalyse als Therapie hatte er ein kritisches Verhältnis. Das änderte auch seine Freundschaft mit Jacques Lacan nicht. Er unterhielt sich mit ihm vor allem über Kunst.

STANDARD: Die Universitätskarriere, die Lévi-Strauss sich nach dem Krieg erhofft hatte, blieb ihm zeitlebens verwehrt. Stieß er mit seiner Arbeit auf Unverständnis?

Loyer: Solche Verbindungen zwischen einer unbedeutenden institutionellen Karriere und einer bedeutsamen intellektuellen Neuerung kennt man häufiger. Lévi-Strauss ist viel gescheitert, bevor er auf glänzende Weise Erfolg hatte. Zweimal, 1949 und 1950, bewarb er sich vergeblich für das Collège de France. Erst 1959, nach dem Erscheinen von Traurige Tropen, wurde er aufgenommen. Andernfalls wäre das Buch nicht entstanden. Das Gefühl, dass er nichts zu verlieren hatte, gab ihm die Kühnheit, es zu schreiben. Es ist ein Schrei, literarisch geschrieben wie ein Klassiker aus dem 17. Jahrhundert. Bei seinem Erscheinen 1955 wusste man nicht, welchem Genre es zuzuordnen war. Aber es machte Lévi-Strauss berühmt.

STANDARD: Stützt sich Lévi-Strauss' Berühmtheit mehr auf seine populären Bücher als auf seine wissenschaftliche Leistung?

Loyer: Viele junge Menschen begeisterten sich für seine gelehrte Persönlichkeit. Es umgab ihn die Aura eines bedeutenden Intellektuellen. Er wurde als Nachfolger von Sartre angesehen. Der Marxismus verlor im intellektuellen Leben der 1960er-Jahre an Anziehungskraft, und der Strukturalismus trat an seine Stelle. Rasse und Geschichte, das Lévi-Strauss 1951 im Auftrag er Unesco verfasst hatte, wurde zu einem Klassiker des Antirassismus. Es besitzt heute noch Schlagkraft. Auch Das wilde Denken stieß 1962 auf ein breites Echo. Dass Mythologica ebenfalls ein Publikumserfolg wurde, sah Lévi-Strauss als Missverständnis an. Für ihn war es ein schwieriges Werk und nicht dazu bestimmt, viel gelesen zu werden.

STANDARD: "Ich glaube nicht an die Legitimität der allgemeinen Anwendung des Begriffs Strukturalismus", sagte Lévi-Strauss kurz vor seinem 80. Geburtstag in einem Interview ...

Loyer: Lévi-Strauss verfolgte ein striktes Konzept der strukturalen Analyse. Ihre breite Anwendung lehnte er ab. Als der Strukturalismus zu einer intellektuellen Mode in Frankreich wurde, erstaunte ihn das. Er sah darin ein Missverständnis. Seiner Einschätzung nach waren die einzigen Strukturalisten in Frankreich der Religionswissenschafter Georges Dumézil, der Linguist Émile Benveniste und er.

STANDARD: Lévis-Strauss beginne früh, kein Mann seiner Zeit mehr zu sein, stellen Sie fest. Liegt in dieser "beharrlichen Inaktualität" die Ursache für das Fortwirken seines Werks?

Loyer: Gerade weil Lévi-Strauss nicht an seine Zeit gebunden ist, kann er uns ein Zeitgenosse sein. Er fordert uns auf, über unsere Zeit nachzudenken. Mit vielen Themen, die uns heute beschäftigen, setzte er sich auseinander. Als er seine Kritik an der abendländischen Idee des Fortschritts äußerte, stand er damit allein. Heute dagegen, da man die Moderne etwas ernüchtert betrachtet, wird seine kritische Sicht von vielen geteilt. Lévi-Strauss war ein Mann großer Freiheit. Er lässt sich weder links noch rechts einordnen. Seine Äußerungen waren immer unvorhersehbar. Das bestätigte mir seine Witwe auch im Privaten. Obwohl sie 55 Jahre verheiratet waren, wusste sie nie, was er sagen würde. (Ruth Renée Reif, 7.10.2017)