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"Es ist absurd zu sagen: Ihr seid ein Kandidat für den Beitritt, aber wir verhandeln nicht mit euch. Das ist so wie wenn man sagt: Wir wollen heiraten, aber wir sprechen nicht über die Hochzeit", sagt Albaniens Premier Edi Rama über die noch nicht begonnenen Beitrittsverhandlungen Albaniens mit der EU.

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Richter und Staatsanwälte in Albanien sind derzeit mehr als nervös. Im Zuge der Justizreform sollen nun durch Fachkommissionen jene Personen herausgefiltert werden, die ihr Amt missbrauchten und sich bereicherten. Bis jetzt konnte man praktisch jedes Urteil kaufen, Richter und Staatsanwälte handelten auf Zuruf, viele Kriminelle und ihre Freunde waren unantastbar. Nun wird jeder – angefangen von ganz oben mit der Generalstaatsanwaltschaft – durchleuchtet. Albaniens Premier Edi Rama spricht im STANDARD-Interview von "entscheidenden Überprüfungen", von denen man "schon bald konkrete Ergebnisse" sehen werde. Rama findet es zudem "unfair", dass sein Land noch nicht mit der EU verhandelt, und spricht sich für ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten aus.

STANDARD: In Albanien beginnen dieser Tage die Überprüfungskommissionen damit, jene Richter und Staatsanwälte herauszusuchen, die korrupt sind oder ihr Amt missbraucht haben. Was erwarten Sie sich von diesem Prozess?

Rama: Diese Überprüfungen sind für eine neue Architektur des Systems entscheidend, das wir durch tiefe Reformen verändert haben. Wir haben – bildlich gesprochen – einen neuen Justizpalast. Und diese Überprüfungen werden absichern, dass die Bewohner dieses Justizpalastes durchleuchtet werden, manche werden nicht hineinkönnen. Wir werden schon bald konkrete Ergebnisse sehen.

STANDARD: Wie tief verankert ist die Korruption im albanischen Justizsystem?

Rama: Ein beträchtlicher Teil der Leute wird mit Sicherheit verabschiedet werden. Der jetzige Prozess lässt keinen Raum für sie zu entkommen oder das System zu infiltrieren.

STANDARD: Die Justizreform ist auch mit dem Beginn von Beitrittsverhandlungen mit der EU verbunden. Wann werden diese anfangen können?

Rama: Das weiß man bei der EU nie, denn bei ihr ändern sich die Positionen und die Bedingungen dauernd. Uns wurde gesagt, dass die Verhandlungen beginnen, wenn die Verfassungsreform zum Justizkapitel gemacht wird. Also haben wir die Verfassung geändert, die Beitrittsgespräche haben aber nicht begonnen. Dann wurde uns gesagt, dass das Gesetz zu den Überprüfungskommissionen wichtig sei. Dann wurde uns gesagt, dass die Wahlen wichtig seien, damit wir starten können. Jetzt haben wir alles erledigt, und wir werden sehen. Es kann nächstes Jahr passieren, wenn der EU-Rat eine positive Meinung dazu äußert, aber es kann auch sein, dass es kommendes Jahr nicht geschieht. Der Erweiterungsprozess ist immer unfairer und für die Staaten weniger vorhersehbar geworden. Dabei geht es nicht um Albanien, das hat mit Europa selbst zu tun.

STANDARD: EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat in seiner "State of the Union"-Rede von der Erweiterungsperspektive gesprochen, in seinem Brief an den Ratspräsidenten hat er aber nur Serbien und Montenegro bis zum Jahr 2025 erwähnt und Albanien nicht einmal genannt …

Rama: Ich denke nicht, dass man das so lesen sollte. Er hat die anderen nicht ausgeschlossen, er hat nur Serbien und Montenegro extra genannt, weil die bereits verhandeln.

STANDARD: Es gibt eine zweite Sorge, dass nämlich die Balkanstaaten nicht mehr aufgrund ihrer jeweiligen Leistungen – also nach dem Regatta-Prinzip –, sondern als eine Region an die EU angenähert werden.

Rama: Ich will nicht, dass das leistungsabhängige Prinzip aufgegeben wird, und ich glaube auch nicht, dass die EU dies machen wird. Denn es ist wichtig, damit die Staaten sich tatsächlich verbessern. Durch die EU-Integration können wir ja unsere Länder modernisieren und Institutionen aufbauen. Aber die EU muss sich reformieren. Ich bin zuversichtlich, dass die wiederhergestellte Achse zwischen Berlin und Paris dies antreiben wird. Ich stimme auch mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron überein, dass es verschiedene Geschwindigkeiten geben sollte. Denn wenn man am Ende eine flexible und funktionierende EU haben will, muss man vorwärtsgehen und nicht alles auf Konsens-Entscheidungen aufbauen.

STANDARD: Erwarten Sie einen Kurswechsel in der Erweiterungsstrategie?

Rama: Das erwarte ich nicht. Das Problem ist auch nicht, was Europa sagt, sondern was es tut. In unserem Fall ist es total unfair, denn wir sind ein Nato-Staat, Montenegro ist der Nato viel später beigetreten. Zudem sind wir bei den entscheidenden Justizkapiteln weit vor Montenegro. Auch Serbien muss diese Reformen noch machen. Wir haben das bereits getan. Es ist fantastisch, dass sie verhandeln. Es ist bloß unfair, dass wir nicht verhandeln! Ich verstehe auch diese unglaubliche Angst der europäischen Führer nicht, wenn sie dauernd den Beginn von Beitrittsverhandlungen mit ihren eigenen Wahlen oder dem Widerwillen der öffentlichen Meinung in Verbindung bringen. Das ist verrückt! Es wäre ja noch verständlich, wenn es um die Mitgliedschaft selbst gehen würde, aber hier geht es um Verhandlungen. Und Verhandlungen sind doch nur etwas, was uns hilft schneller voranzukommen, und denen niemals schaden kann.

STANDARD: Denken Sie, dass die EU-Staaten den Erweiterungsprozess verlangsamen wollen?

Rama: Es geht nicht darum, was ich denke! Das ist doch fühlbar, sichtbar und klar! Manchmal frage ich mich, ob diese europäischen Führer überhaupt darüber nachgedacht haben. Oder vielleicht geht es darum, dass es auf ihrer Agenda weit unten steht, und deshalb hören sie nur auf ihre Verwaltungen oder Berater. Dabei ist die Angelegenheit politisch doch völlig klar. Sie könnten sagen: Wir verhandeln mit allen sechs Staaten auf dem Balkan, und wir werden ganz hart sein, und es wird keinen Beitritt geben, solange sie nicht bereit sind. Aber es ist absurd zu sagen: Ihr seid ein Kandidat für den Beitritt, aber wir verhandeln nicht mit euch. Das ist so wie wenn man sagt: Wir wollen heiraten, aber wir sprechen nicht über die Hochzeit.

STANDARD: Sie haben gesagt, dass "kleinere Unionen" entstehen werden, wenn es zu keiner Vereinigung der Westbalkanstaaten in der EU kommen wird. Das hat in Serbien Ängste vor einem Großalbanien, also vor einem Zusammenschluss von Albanien und dem Kosovo, verstärkt. Verstehen Sie diese Ängste?

Rama: Diese Ängste werden nicht größer. Es ist ja nicht so, dass ich mir das wünsche, sondern es geht um Logik. Die Kosovaren waren unter einem sehr brutalen Regime, und sie konnten nicht nach Europa, und jetzt haben sie einen eigenen Staat – und können wieder nicht reisen. Es gibt nicht nur Erweiterungsmüdigkeit, es gibt auch eine Geduldsermüdung.

STANDARD: Wenn Sie "kleinere Unionen" erwähnen, ist doch klar, dass sie von einer Union mit dem Kosovo sprechen.

Rama: Wir sind nicht mehr im Kommunismus, und deshalb können wir frei reden. Die Großeltern der jungen Kosovaren lebten in einem Staat, der ihre Volksgruppenzugehörigkeit und den Status einer Republik nicht anerkannte. Jetzt haben sie zwar einen eigenen Staat, aber jetzt sind sie in einem Schwebezustand eingekapselt. Sie sind die einzige Bevölkerung in ganz Europa, die nicht aus ihrem Land hinauskann. Und zwar wegen irgendeines Blödsinns! Denen wurden Bedingungen gestellt dafür, dass sie die Schengen-Visa-Befreiung bekommen. Die EU hat gesagt: Ihr müsst zuerst ein Grenzabkommen mit Montenegro machen, aber gleichzeitig verhandelt die EU bereits mit Serbien, einem Staat, der noch nicht einmal den Kosovo anerkannt hat, geschweige denn die Grenzen des Kosovo.

STANDARD: Sehen Sie sich eigentlich als Schutzmacht der Albaner in der Region, weil Sie sich zu den Nachbarn äußern?

Rama: Ich hätte dasselbe gesagt, wenn es dieselbe Ungerechtigkeit gegenüber Serbien geben würde. Wenn Serbien isoliert wäre, würde ich auch sagen: Was ist das für ein Blödsinn?

STANDARD: Aber wenn man die vergangenen Monate anschaut, so sind etwa albanische Parteien aus Mazedonien hierher gekommen, und Sie haben geholfen, eine Vereinbarung zu treffen. Das waren Albaner aus einem Nachbarland. Deshalb frage ich Sie, ob Sie sich als Schutzmacht der Albaner begreifen. Wir befinden uns schließlich auf dem Balkan, und da steht das ethnische Denken im Mittelpunkt – und ist mit Fragen von Stabilität und der Integrität von staatlichen Territorien verbunden.

Rama: Ich glaube nicht, dass es zu einem Skandal führen würde, wenn die österreichische Regierung sich für Österreicher außerhalb des Staatsgebiets einsetzen würde, noch dazu sind die Albaner in Mazedonien keine Minderheit, sondern eine staatsbildende Nation. Wenn man ihnen hilft, dann hilft das Mazedonien sich zu festigen …

STANDARD: … auch wenn das zu einem Konflikt mit der mazedonischen Regierung führt? Es gab schließlich viel Kritik.

Rama: Ich habe mit niemandem einen Konflikt. Gruevski (der frühere Premier von Mazedonien, Anm.) und ich waren sehr gute Freunde, und dann hat er die sogenannte Tirana-Plattform (Vereinbarung der mazedonischen Albanerparteien, Anm.) attackiert. Obwohl er natürlich weiß, dass diese nicht der Grund war, weshalb er nicht mehr in die Regierung kam.

STANDARD: Es ist ja offensichtlich, weshalb Gruevski das tat. Aber es geht doch um etwas anderes. Es geht um die Verhältnisse zwischen den Staaten auf dem Balkan. Es ist für jedes Land schlecht, wenn sich das Nachbarland einmischt.

Rama: In unserer Verfassung ist klar festgeschrieben, dass sich der albanische Staat um alle Albaner im Ausland kümmert. Ich sage denen ja nicht, was sie tun sollen, und ich habe nicht in den mazedonischen Wahlkampf eingegriffen. Aber wenn sie mich um Hilfe bitten, werde ich nicht Nein sagen. Und ich werde das immer machen, was auch immer andere dazu sagen. Das ist natürlich und keine Einmischung. Für uns ist Mazedonien zentral. Jede Bedrohung der Integrität von Mazedonien ist gefährlich für die gesamte Region.

STANDARD: Von mazedonischer Seite wurde gesagt, dass Ihre Einmischung Instabilität geschafft habe.

Rama: Sie interviewen mich! Wenn Sie Fragen an die haben, dann müssen Sie die fragen. Ich werde nicht für die antworten.

STANDARD: Mir geht es darum, Sie über die Auswirkungen Ihres Handelns zu befragen. Sie haben auch angekündigt, die Grenzkontrollen zum Kosovo stark zu erleichtern. Das wurde ja bereits einmal vorgeschlagen, und damals hat die EU-Kommission gesagt, dass ein Grenzmanagement von nur einer Seite nicht möglich ist.

Rama: Haben Sie Grenzkontrollen mit Deutschland?

STANDARD: Wir sind in der Schengenzone.

Rama: Also warum sollten wir Grenzkontrollen haben, wenn Sie keine haben?

STANDARD: Wir sind in der Schengenzone.

Rama: Haben Sie Grenzkontrollen mit der Schweiz?

STANDARD: Ja.

Rama: Genau solche Grenzkontrollen wie zwischen Österreich und der Schweiz werden wir mit dem Kosovo haben.

STANDARD: Was wollen Sie am Grenzmanagement zum Kosovo ändern?

Rama: Wir wollen ein leichtes Grenzmanagement, nicht ganz ohne Kontrollen. Jedoch werden beide Seiten zusammen sein.

STANDARD: So wie das integrierte Grenzmanagement zwischen Montenegro und Albanien?

Rama: Noch leichter. Laut einer Studie der Weltbank verbringen alle Personen und Waren 3.800 Jahre innerhalb eines Jahres an den Grenzen des Balkans.

STANDARD: Werden Sie das gleiche leichte Grenzmanagement auch mit Montenegro oder Griechenland einführen?

Rama: Wir sind bereit, dies mit allen zu machen. Aber im Fall des Kosovo müssen wir das machen, weil hier am meisten Menschen kommen, die an der Grenze leiden.

STANDARD: Also geht es nur um den Personenverkehr?

Rama: Nein, es geht auch um Warenverkehr in der gesamten Region, das ist Teil des Aktionsplans, den wir mit Kommissar Johannes Hahn angenommen haben.

STANDARD: Albanien wurde in den vergangenen Jahren zum größten Cannabis-Produzenten Europas. Nun wurden viele Plantagen zerstört. Doch die Polizei war in den Cannabishandel stark involviert. Was werden Sie dagegen tun?

Rama: Das ist jetzt vorbei, es gibt kein echtes Problem mehr damit. Die Überwachungsergebnisse werden Ende des Monats zeigen, dass Cannabis auf dem Boden von Albanien ausgerottet wurde. Es gibt nur noch ganz wenige Fleckchen – viel weniger als das, was in anderen europäischen Staaten angebaut wird.

STANDARD: Polizisten, die in den Drogenhandel involviert waren, wurden nicht zur Anklage gebracht. Internationale Untersuchungsbehörden haben bestätigt, dass es ein Problem gibt.

Rama: Ich habe nie gesagt, dass es kein Problem gibt. Es geht darum, welche Vorstellungen da kreiert werden. Ich habe einen EU-Bericht über Korruption gelesen, und da geht es um Summen, die sind höher als das albanische Bruttoinlandsprodukt. Also lasst uns seriös darüber sprechen! Es gab schon bevor wir in die Regierung gekommen sind ein Problem, und wir haben den Krieg gegen die Drogen erklärt.

STANDARD: Nachdem die Plantagen in dem Dorf Lazarat während ihrer Regierungszeit zerstört worden sind, gab es aber mehr Cannabisplantagen.

Rama: Das stimmt nicht. Sie müssen etwas sehr einfaches verstehen: Bis 2015 waren alle amtlichen Verlautbarungen der Polizei geheim, also nicht öffentlich. Wir haben die danach veröffentlicht, und deshalb haben die Leute mehr über Cannabis gesprochen. Wenn man aber in die Archive vor dem Jahr 2013 geht, dann sieht man, dass es auch damals schon überall Cannabis gab. Wenn Sie die Wahrheit wollen, dann sage ich Ihnen die Wahrheit. Wenn Sie nur bei Ihren Vorstellungen bleiben wollen, dann bleiben Sie bei Ihren Vorstellungen.

STANDARD: Der neue Parlamentssprecher Gramoz Ruçi war 1991 Innenminister, als bei Demonstrationen in Shkodra vier Menschen erschossen wurden. Gibt es Untersuchungen innerhalb Ihrer Sozialistischen Partei über diese Zeit?

Rama: Das wurde bereits in einem Gerichtsverfahren untersucht, und er wurde von allen verrückten Anschuldigungen freigesprochen. Also warum sollte das die Partei jetzt noch untersuchen? Ich bin seit langer Zeit Führer dieser Partei, und ich war der Führer der antikommunistischen Führung. Die sozialistische Partei, die ich führe, hat nichts mit der Vergangenheit zu tun …

STANDARD: … obwohl es einen früheren Innenminister gibt …

Rama: … der in der Übergangszeit Innenminister war, nämlich nach der Zeit der Revolte. Er hat großartig gehandelt, weil er als Innenminister die ersten freien und fairen Wahlen organisiert hat. Und während dieser Wahlen hat der kommunistische Präsident verloren. Der Rest ist nur Unsinn, und ich verstehe nicht, wie das im Jahr 2017 diskutiert werden kann, wo wir doch ein Gesetz erlassen haben, das es ermöglicht, dass alle Akten aus der kommunistischen Zeit veröffentlicht werden. Wir haben mit Deutschland ein Jahr zusammengearbeitet, um den Vorschlag dafür zu erarbeiten. Und wir haben das "Haus der Blätter" und das Bunkermuseum zum Kommunismus geöffnet, damit die Leute sich mit der Vergangenheit auseinandersetzen. Und wir haben allen ehemaligen politischen Häftlingen, die am Leben sind, Kompensationen bezahlt. Und jetzt reden Sie mit mir über den ehemaligen Innenminister?

STANDARD: Ja, weil er ein Symbol dieser Zeit ist. Gibt es Diskussionen innerhalb Ihrer Partei darüber?

Rama: Nein, weil die Partei ihre Vergangenheit vor langer Zeit losgeworden ist. Und er ist kein Symbol für irgendetwas, er ist nur das Ziel der barbarischen Art der Opposition, die bloß Personen dämonisieren will. Ich bin froh, dass das Parlament jetzt als Parlament arbeitet und nicht ein Klub von Betrunkenen ist – wie noch vor ein paar Monaten. (Adelheid Wölfl aus Tirana, 7.10.2017)