"Ich sag den jungen Leuten in Deutschland immer: Ihr seid nicht rebellisch genug", sagt der Präsident der Europäischen Linken beim Gespräch mit dem STANDARD im Kaffeehaus in Wien.

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STANDARD: Sie sind in Wien, um KPÖ Plus im Wahlkampf zu helfen. Die KPÖ versucht seit 1959, ins Parlament zu kommen. Sind Sie aus Mitleid oder Hoffnung für Mirko Messner und Flora Petrik hier?

Gysi: Ich bin Präsident der Europäischen Linken und unterstütze alle Mitgliedsparteien. Das mache ich nicht von Wahlaussichten abhängig. Die KPÖ hat sich reformiert, das wurde auch Zeit. Sie hat jetzt auch jüngere Mitglieder und ist mit jungen Grünen zusammengegangen. Dann ist da noch dieser SPÖ-Skandal. Vielleicht schaffen sie ja diesmal doch die Hürde.

STANDARD: In Graz sitzt die KPÖ als zweitstärkste Fraktion im Stadtsenat. Sie waren in Ihrem Wahlkreis in Berlin Erster. Können Linke nur noch kommunal reüssieren?

Gysi: Zunächst gab es in Graz mit Ernest Kaltenegger eine besondere Person. Ich habe ihn besucht, den hat jeder auf der Straße gegrüßt. Er galt als ehrlich. Er hat früher als andere eine Reform der Partei gewollt. Die gaben sich dort ja auch ein eigenes Parteiprogramm, das zum Erfolg führte. Ich glaube, dass die Bundespartei daraus gelernt hat. Ihr Programm ist links-sozialdemokratisch.

STANDARD: Kaltenegger ist seit fast zehn Jahren in Politpension, und Elke Kahr errang auch 20 Prozent.

Gysi: Wenn du erst mal drinnen bist und die Chance hast zu arbeiten, kannst du Leute überzeugen.

STANDARD: Die AfD hat bei der Bundestagswahl 400.000 Stimmen von Ihnen abgezogen. Was können Sie diesen Leuten anbieten?

Gysi: Wir haben eine Rechtsentwicklung in den USA und in Europa. Mich erinnert das an die Geschichte der Reformation vor 500 Jahren. Die Reformatoren haben es irgendwann übertrieben. Dann kam die Gegenreformation und diese Gegenbewegung war auch nicht schwach. Wir erleben jetzt eine globalisierte Wirtschaft ohne eine demokratisch legitimierte, funktionierende Weltpolitik, und die Menschheit rückt zusammen. Sie kommuniziert weltweit. Plötzlich stellt sich die soziale Frage nicht mehr national, sondern weltweit. Trump ist der klassische Ausdruck für nationalen Egoismus, genau wie der Brexit. Aufgabe der Linken ist es, für Europa zu kämpfen, wenn auch für ein anderes, als wir es heute haben. Dazu muss man sich den Rechten aktiv entgegenstellen. Was überhaupt keinen Sinn macht, ist, den Rechten ein bisschen recht zu geben. Das läuft immer schief. Da gewinnst du keine Stimmen und verlierst die eigenen Wähler.

STANDARD: ÖVP-Chef Sebastian Kurz gibt den Rechten in Österreich gerade mehr als ein bisschen recht.

Gysi: Konservative Parteien müssen konservative Wähler binden. Sie dürfen jeden Fortschritt mitmachen, müssen aber den Hauptteil der konservativen Wähler mitnehmen. Wenn sie den zurücklassen, ist das auch ein Beitrag zur Stärkung der AfD oder der FPÖ. Noch schlimmer, wenn sie, wie in Deutschland, darüber streiten, ob die Rechten nicht doch ein bisschen recht haben. Sie müssen den Mut haben zu sagen: So, das ist unsere Auffassung zu den Flüchtlingen! Und dann müssen sie versuchen, alle zu überzeugen. Rumeiern und schlingern ist sinnlos. Die ÖVP hofft, FPÖ-Stimmen zu kriegen. Ich glaube, dass das längerfristig nicht funktioniert.

"Man muss sich den Rechten aktiv entgegenstellen", ist Gysi überzeugt.
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STANDARD: Was soll die Linke tun?

Gysi: Wenn die Linke sich konsequent gegen die Rechte stellt, bekommt sie auch für die Mitte der Gesellschaft ihren Wert, weil die weiß, allein hätte sie es nie geschafft. Und sie muss der Jugend eine europäische Perspektive bieten, denn die Jungen wollen Europa. Sie wollen nicht zurück zum alten Nationalstaat mit Grenzbaum und Pass. Dann gibt's vielleicht einen Konflikt mit Frankreich und die führen wieder Visumspflicht ein. Da würden die jungen Leute denken: Die haben ja 'ne Meise! Das ist undenkbar. Wir haben eine europäische Jugend.

STANDARD: Die KPÖ Steiermark hat den Brexit begrüßt. Haben Sie mit den steirischen Genossen geredet?

Gysi: Ich wusste das gar nicht, aber darüber werde ich mit ihnen sprechen.

STANDARD: KPÖ Plus entstand durch die Abspaltung der Jungen Grünen nach einem Streit um die Kandidatur auf einer zweiten Liste bei den Hochschülerschaftswahlen.

Gysi: Ich weiß. Das ist furchtbar bei uns Alten, dass wir immer Angst haben vor jungen Leuten und ihren Strukturen und ihrem Rebellentum. Ich sag den jungen Leuten in Deutschland immer: Ihr seid nicht rebellisch genug. Man kann sich aufregen über sie, ihnen einen Rüffel geben, aber man muss sie sich bewegen lassen und die Leine so lange wie möglich lassen.

STANDARD: Sie haben nach der Wahl in Deutschland gesagt, die AfD ist im Osten zu stark, weil sich die Leute dort als Deutsche zweiter Klasse fühlen. Hätte die FPÖ ein Ergebnis um die 12 Prozent, würden bei der Linken in Österreich die Sektkorken knallen. Was ist denn mit den Österreichern los aus Ihrer Sicht?

Gysi: Österreich hatte nicht unsere Aufarbeitung nach 1945, obwohl die große Mehrheit für Hitler war. Zweitens ist Österreich kleiner und nicht so mächtig wie Deutschland, das schürt wieder andere Ängste. Dass man untergebuttert wird. Interessanterweise ist das bei ganz kleinen Staaten wie Luxemburg wieder anders, die fühlen sich durch die EU aufgewertet. Bei den Ostdeutschen gibt es aber mehrere Gründe. Die DDR war eine geschlossene Gesellschaft, die haben fremde Kulturen gar nicht kennengelernt. Dann sollten sie Deutsche werden, dann Europäer, jetzt sollen sie noch Weltbürger werden, die sind überfordert.

STANDARD: Na ja, es sind jetzt bald 30 Jahre seit der Wende …

Gysi: Ich rede von den Alten, und die übertragen ihre Sicht immer auf die nächste Generation, es braucht immer mehrere Generationen bis diese Sicht völlig überwunden ist. Sie empfinden sich auch als Verlierer der deutschen Geschichte, weil sie die sowjetische Besatzungsmacht hatten. Mit den westlichen Besatzern war es viel einfacher. Und dann fühlten sie sich noch als Deutsche zweiter Klasse bei der Wiedervereinigung. Einige suchen sich da dann noch Menschen dritter Klasse, um nicht ganz unten zu stehen. Der vierte Grund ist, dass sie bis 1993 eine Arbeitslosigkeit erlebt haben, wie das Menschen in den alten Bundesländern glücklicherweise erspart geblieben ist. Deswegen sind ihre Ängste auch größer. Wenn jetzt Flüchtlinge kommen, denken sie, sie nehmen ihnen wieder Arbeitsplätze weg.

STANDARD: Dabei ist die AfD da am stärksten, wo am wenigsten Flüchtlinge leben.

Gysi: Das ist überall so. In Berlin-Kreuzberg leben meisten Bürger mit Migrationshintergrund – die Leute, die da leben, wählen nicht rechts.

STANDARD: Sie haben Ihren Namen von PDS auf Die Linke geändert. In Österreich stoßen sich viele am "kommunistisch" in der KPÖ.

Gysi: Ich finde auch, sie sollten sich umbenennen. Die französische oder die italienische KP waren immer viel eigenständiger gegenüber der KPdSU (Kommunistische Partei der Sowjetunion, Anm.). Die KPÖ war zu artig.

STANDARD: Zu moskautreu?

Gysi: Genau. Deswegen muss man die Erneuerung in einem neuen Namen deutlich machen. Aber man muss natürlich eine Gelegenheit dazu finden – nach der Wahl, auch dann, wenn sie reinkommen.

Gregor Gysi glaubt, dass die Jugend ein vereintes Europa will. Zurück zum Nationalstaat? "Da würden die jungen Leute denken: Die haben ja 'ne Meise!"
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STANDARD: Der Wahlkampf wird täglich grotesker. Etwa mit den Facebook-Seiten der SPÖ. Glauben Sie, das beeinflusst Menschen?

Gysi: Die Stammbelegschaft nicht, aber es gibt schon welche, die es beeinflusst. Aber man darf es nicht überziehen, sonst kann auch wieder das Gegenteil passieren. Also, dass dann die Leute sagen: Ach ne, jetzt der nächste Kübel auf die SPÖ, jetzt geh ich die wählen.

STANDARD: Aus Mitleid für Kern?

Gysi: Das könnte passieren, aber ich glaube schon, dass sie erst mal verlieren und das dann zu einer Erneuerung der SPÖ führt. Und eigentlich müsste die KPÖ doch dadurch wenigstens so viele Stimmen bekommen, dass sie die Hürde schafft. Das darf man sich doch erwarten, wenn ich schon den ganzen Tag in Wien verbringe (lacht). (Colette M. Schmidt, 8.10.2017)