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Gerhard Falkner ist ein erprobter "Long-" und "Shortlist"-Autor: Bereits sein Roman "Apollokalypse" wurde 2016 hoch gehandelt. Von dem gebürtigen Schwabacher stammt auch das Thesenwerk "Über den Unwert des Gedichts", erschienen 1993.

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Gerhard Falkner, "Romeo oder Julia". Roman. € 22,70 / 270 Seiten. Berlin-Verlag, Berlin 2017

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Wien – Schon im ersten Satz wird ein "ungewöhnlich seltsamer Vorfall" in Aussicht gestellt. Man hat Gerhard Falkners Roman Romeo oder Julia kaum aufgeschlagen, da findet man sich bereits in der Weltliteratur wieder. Von einem "ungewöhnlichen, seltsamen Vorgang" ist bekanntlich auch in Nikolaj Gogols Die Nase die Rede. In diesem Schlüsselwerk des Absurden taucht in einem heißen Brotwecken ein überzähliges Riechorgan auf.

Falkners neuer Roman ist auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises gerutscht. In diesem erstaunlichen Werk werden mehr Spuren gelegt, als es Schnüffler – und somit Nasen – gibt, sie zu lesen. Der charaktervolle Zinken aber muss etwas Unansehnlicherem weichen.

Falkners Erzähler, ein Autor namens "Kurt Prinzhorn", empfindet sich als Opfer eines Übergriffs. In seinem Hotelzimmer nahe Innsbruck findet er eines Morgens nach erfolgter Einnahme des Frühstücks in der Badewanne ein unsortiertes Büschel schwarzer Haare. Der Mann wird gestalkt. Kurioserweise sind obendrein die Schlüssel weg; für Kamera und iBook bestand hingegen kein Interesse. Prinzhorn weilt auf einem Symposium. Verhandelt wird im Schatten des Patscherkofels das Motiv des "Gehens" bei Stifter und Thomas Bernhard. Das Motiv ist völlig zweitrangig. Der "Autor" ist bloß der Platzhalter seines (realen) Autors. In der wirklichen Wirklichkeit befasste sich ein berühmter Psychiater namens Hans Prinzhorn mit Kunstwerken von Geisteskranken, die er bienenfleißig sammelte und kategorisierte.

Fachtagungsreisender Sammler

Unser Prinzhorn hier ist Fachtagungsreisender. Sein Sammlungsehrgeiz richtet sich auf mehr bis minder schöne Frauen. Je länger eine solche Eroberung zurückliegt, desto anmaßender sind seine Selbstbespiegelungen. Mit einer seiner Bettgespielinnen gab Kurt einst auf offener Straße angeblich einen unwiderstehlichen Anblick ab: "als ob wir eine Wolke von verpufftem Sex hinter uns herzögen". Kurt ist somit von Beruf Schwadroneur. Das macht es nicht immer einfacher, die Lektüre von Romeo oder Julia einer anderen, etwa der eines Buches von Gogol, vorzuziehen.

Kurt ist das Opfer eines Verbrechens, das noch gar niemand begangen hat. Die Schlüssel sind weg. Also muss man sie durch Schlüsselreize ersetzen. Als Beschreibungskünstler darf man Kurt getrost unter die Nieten zählen. Da lässt ein Damenrock "die Oberschenkel eine Weile im Unklaren", zu anderer Gelegenheit setzt es Weisheiten aus der Glückskeksfabrik: "Das Glück und das Unglück liegen manchmal so dicht beieinander wie Anus und Vagina." Hier ersetzt das gynäkologische Fachwissen bereits die philosophische Plausibilität.

Die Reise der Aufklärung findet schrittweise statt. Sie führt den Helden von Innsbruck über Moskau nach Madrid. In Russland begegnet er einem Straßenhund, den er "Raskolnikow" nennt. Madrid besucht er der Liebe wegen. Die Pflaster der Großstädte spickt dieser Nutznießer aller Goethe-Institute mit Sottisen wie der, dass er über die Gegenwart ganz gut Bescheid wisse: besser, als "was ich im Allgemeinen in der saisonalen Ausstoß-Literatur darüber zu lesen kriege".

Verschnupfte Geliebte

Wie Knöchelchen streut der gelernte Lyriker Falkner Motive über seiner Prosa aus. Freudig sammelt der Leser die Bildmotive, von denen eines auf das andere verweist. Kurt, der Wüstling, muss sich der Nachstellung durch eine verschnupfte Geliebte erwehren. Die preiswürdige Literatur dieser Tage ist auf das Haar neben dem Abfluss gekommen.

Sie operiert mit Ersatzstoffen und handelt mit Geistesblitzen: "Es war Sonntagvormittag, und es gab kaum Leute auf der Straße. Straßen auf den Leuten gab es erst recht nicht." Oft gibt es kaum noch preiswürdige Bücher auf den für sie vorgesehenen Listen. Dafür wird umso erfolgreicher mit Surrogaten gehandelt: Lockstoffen, die einen Reichtum vorgaukeln, der in Wahrheit Ausdruck von Dürftigkeit ist. (Ronald Pohl, 8.10.2017)