Sasha Marianna Salzmann ist die jüngste Autorin auf der Shortlist.

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Sasha Marianna Salzmann, "Außer sich". Roman. € 22,70 / 366 Seiten. Suhrkamp, Berlin 2017

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Wien – Sasha Marianna Salzmann stellt ihrem Debütroman ein Personenregister voran. Zum einen wohl, weil sie eigentlich Theaterautorin ist: Sie hat Szenisches Schreiben studiert und ist seit der Spielzeit 2013/14 als Hausautorin und Dramaturgin am Berliner Maxim-Gorki-Theater. Für Stücke wie Muttersprache Mameloschn bekam sie Aufmerksamkeit und Lob.

Zum anderen reicht sie einem den kleinen Handapparat dankenswerterweise, da es in Außer sich etwas babylonisch werden kann. Zwei bis drei verschiedene Namen tragen die Figuren – als Kosenamen und Aussprachevarianten in diversen Landessprachen. Denn die Handlung spielt in der ehemaligen UdSSR, Deutschland und der Türkei. In Wolgograd und Moskau wurzelt die Familie der 32-jährigen Autorin selbst, Berlin und Istanbul nennt sie ihre Wohnorte. Schilderungen des Istanbuler Lebens kommt das zupass. Eine halbe Seite lang stellt sie etwa den je nach saisonalem Gemüse zustande kommenden Menüplan vor. Ein Genuss!

Im Zentrum der vier Generationen umfassenden Erzählung stehen die Geschwister Alissa und Anton. Wir lernen Ali bei der Einreise in eine Türkei kennen, sie ist aus Berlin hingefahren, um ihren Zwillingsbruder zu suchen. Der hat sich vor Monaten zum letzten Mal mit einer leeren Postkarte bei der Familie gerührt. Mehr bloßes Lebenszeichen denn ein Gruß. Denn die Herkunft, die sich immer wieder den Blick ablenkend einschiebt, lastet auf beiden Kindern. Salzmann erzählt mehr als eine Bruder- eine Identitätssuche.

Trugbilder und Quasidiktatur

"Bloß nicht verkrampfen, wenn man verkrampft, findet man niemanden, und wenn du schon hier bist, kann man doch gleich auch mehr vom Land sehen, oder willst du nichts sehen?", wird Ali gleich nach ihrer Ankunft in der Türkei belehrt. Das Land wird beherrscht von einem Präsidenten, der bestimmt, wie spät es ist, heißt es an einer Stelle. Zivile Proteste und ein Putschversuch zeichnen mit Blut und Tränengas das öffentliche Leben. Auf den Bruder stößt sie so nicht, außer in Trugbildern.

Denn stattdessen nähert sie sich ihm optisch an. Zunehmend werden ihre Gesichtszüge unter dem Lockenschopf markanter. Alissa ist im Begriff, ihr Geschlecht zu wechseln. "Und was, wenn ich keine Frau bin", wollte sie schon früh von der Mutter wissen. "Was bist du dann, ein Elefant?", versteht jene nicht. Sie lernt die ebenfalls in Wandlung begriffene Katüscha kennen und lieben. Doch Ali ist eine Transfigur, von der man im Grunde nicht mehr mitbekommt als stetig wechselnde Personalpronomina, einsetzenden Bartwuchs und mit nur in einem Satz erwähnten, am Schwarzmarkt besorgten Testosteronspritzen. Sie ist kaum mehr als ein effektvoll gemeintes äußeres Bild für eine innere Verwirrung.

Außer sich ist durchaus beachtlich: Salzmann erzählt detailreich, ohne sich zu verzetteln. Sie erzählt zügig, ohne zu hasten. Ihre Sprache ist klar, aber nicht karg. Einzig will Salzmann auf 360 Seiten womöglich zu viel erzählen. In das bisher Bekannte schieben sich Episoden aus den Biografien der Eltern, Groß- und Urgroßeltern.

Ambitionierte Spannweite

Die Autorin schürft psychologisch nicht allzu tief, sondern bietet geschichts- und geschichtenreiche Oberfläche. Zwei Themen ziehen sich als roter Faden durch die mal mehr losen, mal verflochteneren Episoden aus einem Zeitraum von etwa 100 Jahren Familienbiografie: die Liebe und das Verlassen der Heimat. Die Ehe der Eltern Valja und Kostja etwa, von deren Eltern wiederum statt aus Liebe als letzte Chance auf einen Partner verkuppelt, wird nicht glücklich. Gemeinsam mit den Kindern bringt sie sie Anfang der 1990er immerhin als Kontingentflüchtlinge nach Deutschland. In der Heimat als Juden schlechtergestellt, werden sie nun Russen geschimpft.

Außer sich ist in seiner Spannweite ambitioniertes Buch. Geschickt teilt sich das zahlreiche Personal die Seiten, wird ein historisch auch informatives Panorama. (Michael Wurmitzer, 8.10.2017)