In Claudia Bosses erster Operninszenierung geht es nicht um virtuoses Singen, sie reflektiert Musik und Veränderung.

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STANDARD: Die Bezeichnungen "romantisches Singspiel" und "Oper" für Ihre neue Arbeit "Poems of the Daily Madness" klingen nicht sehr zeitgenössisch. Was hat es damit auf sich?

Bosse: Der Komponist Günther Auer und ich haben in unserer langjährigen Kooperation viel an akustischen Sprachräumen gearbeitet. Die Frage war: Kann mit Ästhetiken, in denen sprachlich über zeitgenössische Phänomene nachgedacht wird, Wirksamkeit erzeugt werden? Und wo haben Text, Sprache und Musik, wie etwa in Arbeiterliedern, bereits politische Wirksamkeiten erzeugt? Aus der Arbeit über Themenkomplexe sind Figurationen entstanden: Hate-Crime, Poems, Terror und Madness – vier Allegorien, die sich den Alltag teilen.

STANDARD: Wo ist dabei das Romantische?

Bosse: In der Frage, ob man noch an Veränderung im Bewusstsein glauben kann, wie einzelne Subjekte anders zu erreichen sind, und über welchen Pathos der Veränderung das möglich ist. Die Ästhetiken der einzelnen Melodien stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander. Die Texte sind politisch, aber wir wollten kein politisches Singspiel machen.

STANDARD: Wird in dieser Oper auch virtuos gesungen?

Bosse: (lacht) Wir arbeiten mit Gesang und Anmutungen von Arien. Das Ensemble kommt aus der Performance und aus dem Schauspiel. Wir haben uns bewusst gegen Opernsänger entschieden.

STANDARD: Sie zeigen uns keine zweite Anna Netrebko?

Bosse: Nein, es geht wie bei Hanns Eisler eher darum, das Verhältnis von Virtuosität und der Haltung zum Inhalt des Gesungenen herauszuarbeiten.

STANDARD: Sie leiten das politisch kritische Theatercombinat seit zwanzig Jahren. Haben Sie immer auf Wirksamkeit gezählt?

Bosse: Ich glaube schon, denn Wirksamkeit gibt es ja auf verschiedenen Ebenen. Einmal im Erzeugen von Haltung bei denen, die Kunst machen: In welcher Selbstkonstruktion vertritt man etwas, und wie konstruiert man da in den Zuschauern ein Gegenüber? Zum anderen können im Theater die Verhältnisse von Informationen, die nur über Sprache oder Ideologien laufen, zerlegt werden. So werden sie betrachtbar und kritisierbar. Wirksamkeit liegt in den Inhalten, im Ästhetischen und in der Konstruktion von Arbeitsverhältnissen bei der Kunstproduktion. Letzteres wird heute immer schwieriger.

STANDARD: Weil die Zeit für das künstlerische Arbeiten immer mehr verkürzt wird?

Bosse: Ja, klar, das greift in die Ästhetiken ein. Jeder will gute Kunst, spezifische Setzungen machen und nicht immer nur zitieren, was andere schon gemacht haben. Man braucht eben Zeit, um sich grundlegend mit Inhalt und Umsetzung auseinandersetzen zu können.

STANDARD: Sie arbeiten oft außerhalb der etablierten Institutionen. Ist dadurch ein neues Publikum zu erreichen?

Bosse: Ich glaube schon. Zum Beispiel in einer temporären Gemeinschaft durch Beteiligung auch von eher kunstfernen Leuten an künstlerischen Prozessen. Das kann im Kleinen etwas verändern.

STANDARD: Welcher Aspekt Ihrer Arbeit hat sich erst durch Ihre künstlerische Entwicklung ergeben?

Bosse: Das Überprüfen der eigenen Arbeitsweise und des eigenen Selbstverständnisses in anderen Kulturkreisen. Das ist elementar, denn dabei wird klar, wie relativ der eigene Kultur- und Ästhetikbegriff ist und wie wichtig es ist, diesen immer wieder zu rekontextualisieren.

STANDARD: Für Ihre Arbeiten muss sich das Publikum immer Zeit nehmen, ist das ...

Bosse: Die Oper dauert weniger als zwei Stunden! Aber im Ernst, Zeitlichkeit finde ich total wichtig. Kommendes Jahr planen wir eine 168-Stunden-Performance.

STANDARD: In der Wiener freien Theater- und Tanzszene gibt es nun eine kritische Initiative mit dem Namen Wiener Perspektive. Was ist da los?

Bosse: In den letzten Jahren wurde die freie Szene zusehends institutionalisiert: Immer mehr Mittel werden an von der Stadt besetzte Institutionen gebunden. Und: Was bedeutet es, wenn aus Künstlern gewidmeten Budgets die Renovierungskosten einer Institution wie dem Tanzquartier Wien bezahlt werden? In Berlin etwa wird die freie Szene über Erhöhungen und Extrabudgets gefördert, in Wien sind die Förderbedingungen sehr eng, es herrscht große Intransparenz.

STANDARD: Die Errungenschaften der Wiener Theaterreform von 2003 sind also verloren?

Bosse: Genau. Damals sollte eine größere Autonomie von Künstlern und Gruppen erreicht werden, das ist ins Gegenteil umgeschlagen. Die Koproduktionshäuser, die eine Stärkung der Produktionsverhältnisse und der internationalen Anbindung schaffen sollten, sind bei abenteuerlich niedrigen Koproduktionssummen angekommen. Das nie erhöhte Budget wird im Gießkannenprinzip immer kleinteiliger verteilt. Die Produktionsgelder sind im Vergleich zu 2004 oder 2008 weniger geworden. Man kommt also einer Entwicklung nicht bei, sondern friert ein Feld ein. Am 24. November wird es wieder eine Veranstaltung der Wiener Perspektive geben. (Helmut Ploebst, 10.10.2017)