Eva war sauer. Stinksauer. Das ist an sich schon ungut. Ganz besonders ungut ist der Zorn meiner Freundin aber dann, wenn er sich gegen niemanden Spezifischen richten kann: Wenn an kaltnassen Herbsttagen die halbe Stadt mit Schnupfen und Halsweh kämpft, geht die andere Hälfte besser in Deckung. An einem grippalen Infekt ist niemand schuld – aber wenn ein Bewegungsjunkie dann den dritten Tag elend, schwach und fiebrig im Bett liegt, sollte man einen Fehler nicht machen: Ihm – in dem Fall ihr – einen Blitzableiter bieten. Denn auch wenn erwachsene Menschen wissen, dass dieses Elend im besten Fall rund eine Woche, im schlimmsten aber etwa sieben Tag dauert, ist das Zusammenleben in ebendieser Zeit dann halt mitunter ein bisserl schwer: Männer sterben da nämlich an der tödlichen Männergrippe. Frauen nicht – die werden geradezu gefährlich. Zumindest schließe ich das aus der Stimmung, die Eva hatte, als das Wochenende näher rückte.

Foto: Thomas Rottenberg

Nicht, dass ich das nicht verstanden hätte. Schließlich hatten wir ja etwas anderes vorgehabt: Nach der Wachau und Köln wäre diesen Sonntag beim "Dreiländermarathon" am Bodensee Evas Hattrick angestanden: Drei wunderschöne, sehr unterschiedliche Halbmarathonläufe in extrem kurzer Zeit. Ohne Tempo- oder Zeitdruck. Drei längere Läufe, wie wir sie ansonsten auch in Wien abgespult hätten – nur eben ohne Startnummer, tausenden anderen Läuferinnen und Läufern und netten Erinnerungsmedaillen: Der Halbmarathon ist heute die Volkslaufdistanz schlechthin – und der Herbst die ideale Zeit, die "Ernte" eines Laufsommers einzufahren. Wenn man gesund ist: "Es gibt 1.000 Läufe – aber du hast nur eine Gesundheit" lautet das "memento mori" vor dem Start jedes Rennens. Hören will das keiner. Befolgen sollte man es genau deshalb – auch wenn die Stimmung dann im Keller ist.

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Erst recht, wenn der Partner dann allein tut, was man eigentlich gemeinsam vorhatte: laufen. Und zwar etwa jene Zeitstrecke, die man doch zusammen unterwegs hatte sein wollen. Natürlich versteht man rational, dass es nichts Persönliches ist, wenn der andere wetterberichtsbedingt ein Not-Shirt und eine leichte Regenjacke in den Rucksack stopft, die Laufschuhe zubindet und der im Bett röchelnden, leidenden und schniefenden Kranken fröhlich "bis in zwei Stunden" zuruft. Aber Kranksein ist per se irrational: Vermutlich war es besser, dass ich nicht ganz verstand, was mir nachgekrächzt wurde.

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Mein Plan B war eigentlich schon Plan C: Wäre ich in Bregenz den Halbmarathon allein gelaufen, hätte ich eine Sub-1:35er-Zeit anvisiert – und eh nicht erreicht. Das wäre Plan B gewesen. Plan C war die Wir-bleiben-in-Wien-Variante: "Zwei Stunden, Tempo beliebig", hatte Harald Fritz gemeint. Also ohne Druck und Vorgabe, einfach nett eine mittellange Runde durch die Stadt joggen – mit offenen Augen …

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… und genügend Zeit und Muße, den öffentlichen Raum als großes, lebendiges Alltagsmuseum zu erleben. Denn die Strecken am Donaukanal entlang sind längst eine große Graffiti-Galerie: Die Sprayereien hier haben mit pubertärem Vandalismus und primitivem Taggen schon lange nichts mehr zu tun.

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Die Arbeiten werden auch so wahrgenommen, wertgeschätzt und, wenn man sie etwa auf Instagram postet, von ein paar Auskennern rasch mit Links zu den Künstlern versehen: Minuten nachdem ich dieses Foto auf Instagram gestellt hatte, war der Urheber des Bühnenbildes getagged: Rob Perez, laut Eigendefinition "Artist, Traveller & Dog Lover, currently living in Vienna" und auf Instagram als @deadbeathero zu finden, freute sich über das Bild vom Bild – und macht im Diskurs mit Followern Werbung für Wien als Streetart-Stadt: "Vienna has the largest area of legal walls in Europe. They are sanctioned by the city for graffiti. They are called ‚Wiener Wands‘."

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Einschub: Mein aktuelles Lieblingsstraßenbild am Donaukanal ist zwar anderswo als auf der Route vom Sonntag. Die Gelegenheit, es hier zu erwähnen, will ich trotzdem nicht auslassen. Im Gegensatz zu vielen anderen Werken entlang meiner Lieblingslaufstrecken weiß ich hier aber nicht mehr über den Künstler (oder die Künstlerin), als sich über den Insta-Account @Lushsux herausfinden lässt: Die beiden Frisurheinis dürften im August ihren Platz unter die Brücke gezogen haben. Der Rest steht für sich selbst. Einschub Ende.

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Während am Donaukanal "hochwertig" gemalt wird, ist der Steinitzsteg (so heißt die gelbe Rad- und Fußgängerbrücke, die gemeinhin und sogar auf offiziellen Wegweisern immer noch "Nordsteg" genannt wird – offiziell) das Revier der Spruchmacher: Zwischen Unflat, Primitivem und Obszönem finden sich hier auch Perlen. Oft eignet sich mindestens eine auch als (früher) Stammbuch- oder (heute) Social-Media-Tagesspruch.

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Ich hatte den Lauf zügig, aber nicht knackig angelegt: "Zwei Stunden" ist eine sehr angenehme, weil "weiche" Vorgabe. Von Bobostan zum Donaukanal, den hinauf bis zur Nordbrücke und dann hinüber an die obere Alte Donau war ich ziemlich genau eine Stunde unterwegs. Exklusive Foto- und sonstige Stopps. Ich hatte es heute nicht eilig – auch wenn ich das fast ein bisserl bedauerte. Neben dem Dreiländermarathon gab es am Sonntag ja noch etliche andere Läufe, bei denen Freunde liefen: Graz etwa. Oder München. Oder der Swimrun im Allgäu. Oder …

Andererseits: Alleinlaufen kann auch was. Eine ganze Menge sogar: Es ist meditativ. Ein Mantra. Und kann auch eine Übung in Demut und In-sich-selbst-Hineinhören sein. Wenn man es so anlegt.

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Außerdem hat man beim Solo-Laufen viel Zeit, Gegend und Umfeld zu scannen. Und plötzlich nicht mehr im Alles-locker-Modus unterwegs zu sein: Etwa auf der Höhe der Badebucht beim Strandbeisl "Selbstverständlich" strampelte irgendetwas im Wasser. Zehn, vielleicht 20 Meter vom Steg und 30 Meter vom Ufer entfernt. Das sah nicht gut aus. Gar nicht gut. Und am Steg standen ein paar Figuren, gafften und zeigten aufs Wasser – aber keiner machte Anstalten, einzugreifen. Im Laufen streifte ich den Rucksack ab und war fast schon im Sprung, als einer der "Gaffer" mir etwas zurief: "Alles gut – das ist nur eine Übung."

Foto: Thomas Rottenberg

Aus der Nähe und in Ruhe konnte man das dann auch eindeutig erkennen: Hier übten Taucher einer Tauchschule für die Prüfung zum "Rescuediver". Mit allem, was dazugehört – also inklusive panisch um sich schlagenden "Opfer". Ich hatte genau das aus der Ferne gesehen – und angesichts der untätigen Gaffer auf Notfallautopilot geschaltet: Ich weiß, dass auch ein mittelschlechter Schwimmer wie ich bei 16 Grad Wassertemperatur zweimal 30 Meter schafft. Wenn es sein muss. Dazu muss man weder Held noch Rettungsschwimmer sein: Durchschnittliche Schwimmkompetenz genügt.

Zuschauen und hoffen, dass jemand anderer eingreift, genügt aber nicht. Nie. Nicht im Wasser – aber auch nicht an Land.

Abgesehen davon: Erste-Hilfe-Skills muss man üben. Immer wieder auffrischen. Wann habe ich eigentlich das letzte Mal die Standard-Griffe und -Abläufe (an Land) geübt? Wüsste ich auch im Ernstfall, was ich tun muss – oder würde ich die Nerven wegschmeißen? Memo an mich selbst …

Foto: Thomas Rottenberg

Von der Alten Donau ging es dann über die Neue Donau auf die Donauinsel – und dann hinauf auf die Radspur, die unterhalb der Tangente die Donau zum Prater quert. Die Debatte, ob man als Läufer hier den Radweg nutzen darf, verweigere ich: Auf der "Fußgängerseite" ist der Radfahreranteil in etwa ebenso hoch wie auf der Radseite jener der Fußgänger – und mit einem Minimum an Rücksicht und Respekt füreinander kommt man auch problemlos im Gegenverkehr aneinander vorbei. Wenn man will.

Und zwar sogar mit Hund und ohne Leine.

Foto: Thomas Rottenberg

Wobei ich diesen Wuff, der mich da mit seinem Herrchen beim Überholen (die beiden mich, wohlgemerkt) beinahe über den Haufen gerannt hätte, am liebsten gestohlen oder entführt hätte. Aber die beiden waren eindeutig zu schnell für mich.

Foto: Thomas Rottenberg

Dabei war ich gar nicht so langsam gewesen. Aber das merkte ich erst, als ich auf die Hauptallee kam und auf die Uhr sah: Wenn ich für die letzten zwei Kilometer ein bisserl andrückte, würden sich 1:40 für die Halbmarathondistanz ausgehen. Auch wenn derlei bei einem im Grunde planlosen Sonntagslauf noch sinn- und belangloser ist, als die Zeitenfixiertheit von Hobbyläufern bei Volksläufen: Manchmal muss man sich selbst halt irgendwas beweisen. Dann gibt man sich nach 19 entspannten Kilometern zum Schluss so richtig die Kante – und läuft dann eben locker und gemütlich aus.

Obwohl der letzte Halbsatz eine Lüge ist. Aber das braucht niemand über die letzten 20 Minuten dieses Herbst-Solos durch Wien zu wissen. Nicht einmal meine Freundin. (Thomas Rottenberg, 11.10.2017)

Der Track auf Strava


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Von der Vermessung des Laufens: Der Garmin Dynamics Pod

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