Helmut Kowar ist Direktor des Phonogrammarchivs.

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Helmut Kowar
Spielwerke aus Prag und Wien

Verlag der ÖAW 2017
235 Seiten, 79 Euro

Foto: Verlag der ÖAW
Eine Walze mit kurzen Stiften, die sich langsam an gestimmten Stahlfedern vorbeidreht, die dabei angezupft werden – das ist das Grundprinzip einer Spieluhr (hier ein Spielwerk des Herstellers Anton Olbrich in Wien). Für ein optimales Ergebnis mussten die Setzer musikalisch versiert sein.
Foto: Phonogrammarchiv/ÖAW

Wien – Wenn Helmut Kowar von Spieluhren und -dosen zu erzählen beginnt, dann kann er weit ausholen. Schließlich zählen diese feinmechanischen Kostbarkeiten des 19. Jahrhunderts zum Spezialgebiet des Direktors des Phonogrammarchivs der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW): den historischen Musikautomaten.

Und deren Geschichte beginnt bereits in der Antike. Da erschallten bei automatisch öffnenden Tempeltoren Trompeten, es gab singende Trinkbrunnen, später erfreuten sich Kalifen im arabischen Raum an künstlich zwitschernden Vögeln auf silbernen Bögen, und in Thronensembles brüllten sich mechanische Löwen ihre Seele aus dem Leib.

Für die auditive Rekonstruktion solcher zum Teil Jahrtausende zurückliegender Tonspuren sei wohl viel Fantasie notwendig, meint Kowar. Doch als Forscher hat er schon Musik virtuell rekonstruiert, die Kaiser Rudolf in seiner Wunderkammer Ende des 16. Jahrhunderts hörte, und sie als CD herausgebracht. Weiters hat er ein Buch über Drehorgeln, automatische Klaviere, selbstspielende Violinen, Flötenuhren, automatische Zithern, Harfen und Orchestrions geschrieben. "Das war in den 1980er-Jahren noch ein brachliegendes Forschungsgebiet." Kürzlich hat der Experte für historische Spielautomaten erneut eine Monografie herausgebracht, die Material aus fast 40 Jahren versammelt. Seit 1980 dokumentiert Kowar Spieluhren, die in Prag und Wien im 19. Jahrhundert entstanden sind.

Klingende Feinmechanik

Mehr als 3000 Stück davon hat er fotografiert und beschrieben. Von mehr als 1350 hat er auch Tonaufnahmen angefertigt. Das gibt dem Forscher Einblick in die regionale Hitparade des 19. Jahrhunderts und hat ihn eine Typologie finden lassen, die die österreichische Produktion grundlegend von Massenproduktion aus der Schweiz, dem Erfinderland von feinmechanischen Spielwerken, unterscheidet.

Dem Laien sagen Spielwerke auf den ersten Blick recht wenig. Das Prinzip dieser Musikautomaten hatte der Schweizer Uhrmacher Antoine Favre-Salomon 1796 der Schweizer Societé vorgestellt. Rein mechanisch betrachtet dreht sich eine kleine Walze mit kurzen Stiften langsam an gestimmten Stahlfedern vorbei, die dabei kurz angezupft werden. Haben die Feinmechaniker gut gearbeitet und die Musiksetzer alles richtig gemacht, erklingen rund 45-sekündige Arrangements populärer Musik aus dem 19. Jahrhundert.

Favre-Salomon selbst war mit seiner Innovation zwar nicht reich geworden, ein altes Erfinderschicksal. Aber in der Folge entstand in Genf eine florierende Industrie für die "Musikbox" des 19. Jahrhunderts. Eingebaut wurden diese Spielwerke, je nach Größe, in eigene Schatullen, aber vor allem auch in Schnupftabakdosen, sogenannte Tabatieren: "Der Mann von Welt offerierte eine Tabatiere, und man konnte eine Prise entnehmen", sagt Kowar. "Und wenn man die Dose aufmacht, ist da nicht nur Schnupftabak, sondern es erklingt auch eine Melodie."

Für Experten wie Kowar geben Form, Herstellungsort und die musikalische Variationsbreite Einblick in die musikhistorische Ethnologie. Denn neben der Schweizer Produktion, die neben Tabatieren auch riesige Spielwerke herstellte, die bis zum Schah von Persien exportiert wurden, entstand in Prag und Wien um 1820 eine kleine, aber feine Produktion, die Spielwerke in Schatullen oder für Kommodenuhren produzierte. Und gerade für diese altösterreichische Produktion ist Kowar Experte – der einzige weltweit.

Abgestimmt auf den Markt

Während sich die Schweizer Konkurrenz musikalisch auf internationale Opern und Salonmusik spezialisiert hatte – für England und Schottland wurden auch Oratorien arrangiert -, stimmten die altösterreichischen Produzenten ihre Arrangements ganz auf den heimischen Markt ab. Lanner und Strauß erklangen ebenso wie aktuelle Opern, die auf dem Spielplan standen. "Die Spielwerkehersteller haben sich da besonders angestrengt, um en vogue zu sein", sagt Kowar. Denn seine Forschungen zeigen, dass in den Spieluhr-Arrangements neueste Kompositionen umgesetzt wurden – lange bevor Notenmaterial, etwa Klavierauszüge, auf den Markt kamen.

Wer die Musiksetzer waren, wisse man heute nicht mehr. Aber sie mussten versiert in musikalischer Satztechnik gewesen sein und – ausgestattet mit feinem Gehör – etwa auch bei StraussKonzerten im Café Dommayer in Hietzing dabei gewesen sein. Die neuen Melodien wurden mitnotiert und auf 45 Sekunden eingedampft, um im Spielwerk mechanisch umgesetzt zu werden – damit sie am besten gleich am nächsten Tag zur vollen Stunde in den Uhren des heimischen Großbürgertums erklingen konnten.

"Klasse statt Masse"

Diese Aktualität scheint auch eine der Besonderheiten der altösterreichischen Spielwerkeproduktion gewesen zu sein. Im Gegensatz zu den Schweizer Massenproduzenten, deren musikalische Qualität von Kritikern angezweifelt wurde, sollen die Prager und Wiener Arrangements gleichbleibend bestes Musikgut geliefert haben.

Insgesamt haben die Prager und Wiener Produzenten im gesamten 19. Jahrhundert freilich nur wenig mehr als 100.000 Stück an Spielwerken verkauft. "Das war ungefähr gleich viel, wie Schweizer Erzeuger jährlich exportierten", sagt Kowar. Klasse statt Masse war wohl die Devise.

Mit dem Grammofon, das 1887 erfunden wurde, waren die Tage der Spielwerkeproduzenten freilich gezählt – sowohl in Genf als auch in Prag und Wien. Um die Jahrhundertwende schlossen so gut wie alle Spielwerke-Unternehmen ihre Pforten.

Heute erfreuen sich Spielwerke verschiedenster Provenienz bei Sammlern großer Beliebtheit. Für Kowar waren diese bei seinen internationalen Recherchen neben Museen oder Auktionshäusern wichtige Ansprechpartner. Türöffner bei vielen skeptischen Sammlern, die ihre Spieluhr-Schätze wie den Augapfel hüten, war, dass er weder gutachterlich tätig ist, noch Wertschätzungen vornimmt. "Das hätte die Forschung verunmöglicht. Man hätte mich als Spion angesehen." (Norbert Regitnig-Tillian, 12.10.2017)