Ein Teil ersetzt 30: Zenith will mit dem neuen hochpräzisen Silizium-Schwingsystem (blau) die Zukunft der mechanischen Uhr einläuten.

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Rund um die Senfine von Parmigiani mit ihrem neu gedachten Gangregler ist es still geworden.

Foto: Parmigiani Fleurier

Eine Uhr, die nicht mehr tickt, sondern zu vibrieren scheint: Defy Lab von Zenith.

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Das offizielle Video von Zenith.

Zenith Watches

Es ist eine Binsenweisheit, dass der vielzitierte "unverstellte Blick von außen" zu erstaunlichen Erkenntnissen führen kann. Das kann sogar so weit gehen, dass ein seit dem Jahr 1675 (oder 1673, je nach Lesart) bestehendes Grundprinzip der Uhrmacherei quasi von heute auf morgen über den Haufen geworfen wird. Seit damals funktionieren mechanische Zeitmesser im Wesentlichen nach den Prinzipien, die der niederländische Astronom, Mathematiker und Physiker Christiaan Huygens niedergeschrieben hat: auf Basis einer Hemmung mit einer Unruh samt Spiralfeder und Anker plus Ankerrad. Dieses System sorgt für den richtigen Gang der Uhr, ist für das typische Ticken verantwortlich und tut in Millionen von Uhrwerken zuverlässig seinen Dienst.

Jahrhunderte alte Prinzipien

Dass sich das in Zukunft ändern könnte, dafür ist Guy Sémon verantwortlich. Als Naturwissenschafter näherte er sich dem Thema aus einer gänzlich neuen Richtung und vollkommen anders, als dies ein Uhrmacher getan hätte. Sémon war schnell klar, dass eine bloße Optimierung des bestehenden Grundprinzips nach Huygens nicht die Lösung sein kann. Die technischen Möglichkeiten des Huygens-Prinzips waren schlicht ausgeschöpft. Er stellte es daher konsequent infrage und fand vollkommen neue Wege, mit modernen Technologien und neuen Materialien Uhren zu bauen.

Der Ingenieur und ehemalige Pilot der französischen Luftwaffe kam über Umwege zum Uhrenbau und machte sich als Leiter der Forschungsabteilung von TAG Heuer einen Namen mit avantgardistischen Uhren, die als mikromechanische Kunstwerke angesehen wurden. Als Technologieträger, die zwar einen möglichen Weg in die Zukunft der Uhrmacherei aufzeigten und in Fachkreisen für Aufsehen sorgten, aber vielfach auch belächelt wurden. So wie jene Concept-Cars, die auf diversen Automobilmessen für den nötigen medialen Buzz sorgen, aber so gut wie nie ihren Weg in die Serienfertigung finden.

Zirpen im Zeitraffer

Sein Talent blieb auch LVMH, Mutter von TAG Heuer, nicht verborgen. Er wurde CEO des Forschungsinstituts der LVMH Watch Division und krönte, vermutlich mit einem atemberaubenden Etat ausgestattet, am 14. September 2017 seine ungewöhnliche Karriere mit der Vorstellung der Defy Lab von Zenith (ebenfalls LVMH). Deren neuartiger Gangregler scheint tatsächlich jene vor 342 Jahren aufgestellten Grundsätze zu kippen. Bestehend aus nur einem einzigen Stück monokristallinem Silizium (mit Anteilen, die dünner als ein menschliches Haar sind), ersetzt das neue Schwingsystem die Unruh samt Spiralfeder und Anker.

Die über 30 Einzelteile des bisherigen Regulierorgans einer mechanischen Uhr werden bei der Defy Lab durch ein einziges, nur einen halben Millimeter hohes Bauteil ersetzt. Zum Vergleich: Die Bauhöhe eines herkömmlichen Regulierorgans beträgt etwa fünf Millimeter. Mechanische Verbindungen verschiedener Bauteile fehlen. So werden nachteilige Effekte wie Reibung, Abnutzung und Spiel zwischen den Bauteilen, die Notwendigkeit zur Schmierung sowie eine aufwendige Montage vollständig vermieden. Auch das Ankerrad besteht aus Silizium. Dabei schwingt der neue Gangregler mit der sehr hohen Frequenz von 15 Hertz. Das neue Kaliber namens ZO 342 erreicht dadurch offenbar eine Ganggenauigkeit, die es bisher bei einer mechanischen Uhr nicht gegeben hat. Magnetfelder und Temperaturschwankungen sollen die Performance nicht mehr beeinflussen.

Gespaltene Expertenschaft

Und so zieht der Sekundenzeiger der Defy Lab ohne das geringste Ruckeln über das Zifferblatt. Nur eines fehlt: das typische Ticken. Es ist vielmehr ein Sirren, gerade so, wie wenn man das Zirpen einer Grille schnell vorspulen würde. Auch die gleichmäßige Bewegung der Unruh ist nicht mehr zu sehen, es sieht vielmehr so aus, als würde die Uhr als Ganzes vibrieren.

Ist das nun die Zukunft der mechanischen Uhr? Die Expertenschaft ist gespalten: Die einen sprechen von einer Revolution, die anderen sind nicht ganz so euphorisch.

Verheißungen

Fakt ist, dass sich schon andere auf dieses Gebiet vorgewagt hatten. Allen voran Parmigiani. Die hochangesehene Manufaktur aus Fleurier stellte Anfang 2016 den Prototyp einer Uhr mit dem verheißungsvollen Namen Senfine (Esperanto für "ewig") vor. Es sollte eine mechanische Uhr sein, die über eine unerschöpfliche Gangreserve verfügt, eine Uhr, die nie stillsteht und nur wenige Male pro Jahr aufgezogen werden muss.

Die Idee und die Erfindung, die dem Senfine-Uhrwerk ebenfalls mit monolithischer Bauweise aus Silizium – Unruh, Spiralfeder und Anker sind aus einem einzigen Stück gefertigt – zugrunde liegen, sind Pierre Genequand, einem Genfer Ingenieur und ehemaligen Mitarbeiter des Schweizer Forschungszentrums für Elektronik und Mikrotechnologie (CSEM) zu verdanken.

Reibungslos am Werk

Der Wissenschafter hatte sich auf reibungslose elastische Gelenke in der Raumfahrttechnik spezialisiert. Er war davon überzeugt, dass diese Technologie ein großes Potenzial für die Uhrmacherei darstelle. Als er 2004 pensioniert wurde, traf er die Entscheidung, diese Idee weiterzuentwickeln.

Eine der Stärken von Genequand besteht darin, kein Uhrmacher zu sein. So konnte er sich, auch das eine Parallele zu Sémon, vollkommen unvoreingenommen an die Änderung des klassischen Gangreglers machen – in Uhrmacherkreisen kommt das einem Tabubruch gleich. Der Senfine-Gangregler ist "schwebend" gelagert. Er schwingt durch den Impuls des Ankers um eine virtuelle Achse, ohne Reibungspunkte und mit einem fast vernachlässigbaren Reibungskoeffizienten.

Auch das sorgte damals, 2016, für einiges an Aufsehen. Nur hat man seither nichts mehr davon gehört. Anders bei Zenith: Dort will man damit bald in Serienfertigung gehen. Schließlich müssen die Forschungskosten – wie hoch auch immer sie gewesen sein mögen – wieder reingespielt werden. (Markus Böhm, RONDO, 4.11.2017)