Traumata, die durch sexuelle Übergriffe entstanden sind, können auch nach langer Zeit wieder aufbrechen – oft bei einschneidenden Erlebnissen.


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Wien – Immer mehr Frauen werfen dem Hollywood-Produzenten Harvey Weinstein derzeit das Delikt der sexuellen Belästigung und Vergewaltigung vor. Ursula Kussyk vom Verein Notruf – Beratung für vergewaltigte Frauen und Mädchen schilderte im Gespräch mit der APA am Dienstag, warum Betroffene oft erst viel später über solche Taten reden und dass Frauen auch heute häufig vermittelt wird, sie seien "selber daran schuld".

"Die hat's ja selbst gewollt. Männer sind halt so". Zwei Aussagen, die von sexueller Belästigung oder Vergewaltigung betroffene Frauen und Mädchen noch immer sehr oft zu hören bekommen, wenn sie mit ihren Erfahrungen an die Öffentlichkeit gehen oder den Täter vor Gericht zur Verantwortung ziehen wollen. Zwei Ausreden, die von Tätern immer noch als Rechtfertigung zum Kleinreden ihrer Handlungen verwendet werden, sagte Ursula Kussyk. Die diplomierte Sozialarbeiterin ist seit 1991 für den Verein Notruf tätig, der Beratung für von sexueller Gewalt betroffene Frauen und Mädchen anbietet. Schuldzuschreibungen seien einer der Gründe, dass Tatbestände sexueller Gewalt erst Jahre oder Jahrzehnte später bekannt werden, so Kussyk.

Hemmschuh Macht

Das sogenannte Victim Blaming bzw. die Täter-Opfer-Umkehr führe häufig zum Schweigen der Betroffenen. "Sie schieben sich auch selbst die Schuld zu und glauben, die Übergriffe provoziert zu haben. Aus Scham teilen sie sich niemandem mit. Ich habe Klientinnen erlebt, die isoliert wurden, nachdem sie über eine Vergewaltigung gesprochen haben. Sie geben sich selbst die Schuld, wenn die Familie zerbricht", schilderte Kussyk, "da sagen sie oft lieber nichts." Im Polizei- und Justizbereich herrschen jene "Einstellungen, die es in der Gesamtgesellschaft gibt. Es gibt zum Beispiel sicher sehr engagierte Polizistinnen, aber es kommt einfach immer drauf an, wen man dort erwischt."

Wenn es dann um Arbeitsverhältnisse gehe, bestehe zudem die Angst vor Jobverlust und Mobbing. "Bekannte, reiche Männer können dann noch einmal einen Hemmschuh darstellen. Die können sich auch die besten Anwälte leisten", beschrieb Kussyk. Oft zitierte Aussagen seitens der Täter, zum Tatzeitpunkt – beispielsweise in den 1960er- und 1970er-Jahren – habe eine "andere Kultur" geherrscht, seien natürlich keineswegs eine Entschuldigung. "Dass es falsch gewesen ist, was sie getan haben, werden die auch damals schon gewusst haben. Es gab früher aber eine mangelnde Strafverfolgung und eine Tabuisierung dieser Delikte. Ein Verbrechen wird ja nicht deshalb akzeptabler, weil es tabuisiert wird, es 'alle machen' oder keine Folgen nach sich zieht", sagte Kussyk.

Stärkere Sensibilisierung

Medienberichte im Internet, in sozialen Netzwerken oder Nachrichtendiensten wie Facebook, Twitter oder Instagram erleichtern es heute für betroffene Mädchen und Frauen, sich selbst jemandem anzuvertrauen bzw. sexuelle Gewalt öffentlich zu machen, ist Kussyk überzeugt. Berühmte Persönlichkeiten, aber auch geteilte Erfahrungsberichte "nicht-prominenter" Frauen hätten hier durchaus Vorbildfunktion. Auch die Chance auf eine Verurteilung des Täters steige dadurch. Die Sensibilisierung dafür, was sexuelle Gewalt überhaupt ist, sei generell gestiegen. "Wir haben bei unserer Arbeit schon das Gefühl, dass mittlerweile mehr Frauen überhaupt merken, wann etwas eine Vergewaltigung ist und dass sich auch mehr an Beratungsstellen wenden. Das Bewusstsein ist gestiegen", so Kussyk. Die Schuldzuschiebungen bei sexueller Gewalt hätten hingegen nicht abgenommen, betonte sie. "Da ist sofort wieder dieser Zweifel bei den Frauen da: 'Ich bin selbst schuld'".

Alte Traumata

Für ein spätes Melden sexueller Übergriffe könne auch eine Verdrängung des Erlebten verantwortlich sein, erklärte Kussyk. "Alte Traumata können etwa viel später wieder aufbrechen, wenn es im Leben der Betroffenen zu einer Krise oder bedeutenden Ereignissen kommt, im negativen oder auch positiven Sinn. Etwa eine Schwangerschaft, Eheprobleme oder neuerliche Gewalterfahrungen. Die neue Situation überfordert die Frau vielleicht, auch Altes wird wieder präsent und schließlich wird es einfach zu viel." (APA, 11.10.2017)