Eine Ausschnitt aus dem Palmblätter-Manuskript des Prasannapada aus dem 12. Jahrhundert.

Anne MacDonald (Dritte im Bild) nahm am Montag den Preis an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) von Anja Hartmann der Khyentse Foundation (Zweite im Bild) entgegen. Gefreut haben sich auch Birgit Kellner, Direktorin des Instituts für Kultur- und Geistesgeschichte Asiens (links), und der Vizepräsident der ÖAW, Michael Alram (rechts).

Foto: ÖAW

Wien – "In Clear Words" heißt der buddhistische Text aus Indien, den Anne MacDonald in fünfjähriger Arbeit edierte und ins Englische übersetzt hat, oder genauer: das erste Kapitel davon. Der im Sanskrit-Original "Prasannapada" genannte Text wurde im 7. Jahrhundert vom Gelehrten Candrakirti verfasst und war wegweisend für die Entwicklung des Buddhismus in Asien.

Die Übersetzung ist der kanadischen Forscherin so gut gelungen, dass ihr am Montag der Preis für herausragende Übersetzung der internationalen Khyentse Foundation überreicht wurde.

"So klar wie der Titel vermuten lässt, ist der Text leider nicht", lacht MacDonald, die seit sieben Jahren am Institut für Kultur- und Geistesgeschichte Asiens der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien arbeitet. Inhaltlich ist er herausfordernd, denn es geht immerhin um die Grundlagen der buddhistischen Philosophie: Was meinte der Autor vor 1.300 Jahren?

Außerdem ist der Text selbst als Kommentar zu einem früheren Text vom Gründer der buddhistischen Madhyamaka-Philosophie Nagarjuna (2. Jahrhundert) verfasst, der 600 Jahre nach dem historischen Buddha lebte.

Buddhistische Textforschung in den Kinderschuhen

Die größte Herausforderung für Wissenschafter des indischen Buddhismus ist aber, dass etliche unterschiedliche Varianten der Grundtexte zirkulieren. Bei lateinischen oder griechischen Texten haben sich Forscher in jahrhundertelanger philologischer Arbeit auf eine kritische Edition geeinigt und können nun getrost über philosophische Feinheiten debattieren. Die buddhistische Textforschung steckt aber in den Kinderschuhen. Eine kritische Sanskrit-Edition zu erstellen ist Grundlage einer exzellenten Übersetzung.

MacDonald konnte nun zeigen, dass es über die Jahrhunderte der Überlieferung des Prasannapada zu etlichen Missverständnissen kam. Und dabei geht es um nichts Geringeres als um die Erleuchtung.

Der Text: Eine Geschichte von Missverständnissen

MacDonald verglich für ihre Übersetzung 16 Sanskrit-Manuskripte und fünf tibetische Editionen. Dabei stammte das früheste Manuskript aus dem 12. Jahrhundert und umfasst 77 Seiten. Durch sorgfältigen Textvergleich konnte sie die Überlieferungsgeschichte des Texts wiederherstellen.

In detektivischer Kleinstarbeit rekonstruierte MacDonald die Überlieferung des Prasannapada. Großbuchstaben stehen für die 16 vorhandenen Manuskripte, griechische Buchstaben für gefolgerte Versionen.
Foto: Anne MacDonald

Während der Buddhismus in Indien langsam ausstarb, florierte er in Tibet. "Wir wissen nicht, warum Candrakirti so ein Superstar in Tibet wurde, aber er ist dort richtig explodiert", erzählt MacDonald. Patsab Nyimadrak hat im 11. Jahrhundert viele Werke Candrakirtis ins Tibetische übersetzt, darunter auch den Prasannapada. Dabei strebte er höchste Präzision an. Auch er wusste, dass kleine Verständnisunterschiede eine ganze Philosophie verändern können.

"Nyimadrak hat eine exzellente Übersetzung angefertigt", meint MacDonald anerkennend. "Ich denke oft an ihn, wie er in seinem Kloster sitzt, editiert und übersetzt." Doch auch er habe bereits mit "verunreinigten" Manuskripten gearbeitet. Über die Jahrhunderte häuften sich Schreibfehler und etliche Textpassagen wurden inhaltlich immer diffuser. Anders als Nyimadrak hat MacDonald heute das Glück, über große Ressourcen zu verfügen. "Wir können viele Texte vergleichen und jederzeit Experten auf der ganzen Welt binnen Sekunden kontaktieren."

Buddhismus richtig verstehen: Satzzeichen oder Fliegendreck?

MacDonalds Arbeit ist detektivisch: Eine minimale Textunklarheit kann zu jahrhundertelangen Debatten führen. Ist der Sanskrit-Buchstabe ein "sa" oder ein "na"? Letzteres ist eine Negation und dreht so die Bedeutung eines Satzes ins Gegenteil. Manchmal sitzt sie vor einem von Insekten zerfressenen Manuskript und muss entschieden, ob ein schwarzer Punkt nun ein Satzzeichen oder Fliegendreck ist.

Damals wie heute wollen die Forscher wissen: Was bedeutet die buddhistische Madhyamaka-Philosophie wirklich? Es gab unterschiedliche Interpretationen in Indien und Tibet, und auch heute unter Forschern. "Die alten Texte richtig zu übersetzen hilft modernen Wissenschaftern und traditionellen tibetischen Gelehrten, sowohl im Exil in Indien als auch in Tibet", meint MacDonald.

Die Welt existiert nicht

Am Ende geht’s um nichts Geringeres als die Erleuchtung und die Frage, die damit verbunden ist: Welches Verständnis von Wirklichkeit muss erlangt werden? Gibt es irgendetwas in dieser Welt? Oder gibt es nichts? Ist die Welt ein großes Ganzes oder von vornherein eigentlich gar nicht existent?

MacDonald greift auf einen Vergleich aus ihren Texten zurück, um die Natur der Dinge bei Candrakirti zu erklären: Grundsätzlich ist alle Welt Illusion. Wir sehen aber nicht falsche Dinge, wo eigentlich andere, richtige Dinge zu finden wären, sondern es ist von Grund auf falsch, die Existenz von Dingen anzunehmen. Ein Unerleuchteter ist wie ein Mensch mit einer Augenkrankheit, der ein ständiges Flimmern vor den Augen sieht. Der Erleuchtete ist geheilt davon, es gab nie ein Flimmern. Die Welt hat also nie existiert, sie ist leer.

Eine transzendente Wirklichkeit

Im Forscherzirkel gilt MacDonald als Radikale. Vielen Philosophen bereitet es Unbehagen, die Welt als "nichts" zu erklären. Dabei sei dieses "nichts" weit entfernt von Nihilismus, erklärt MacDonald. MacDonald meint, durch ihre Arbeit nachweisen zu können, dass Candrakirti damals auf einen Zustand hingewiesen habe, der auf mystische Erfahrungen zurückgeht, die eben eine Natur der Dinge jenseits von "Existenz" oder "Nicht-Existenz" offenbarten. Kompliziert, ja. Richtig?

"Ich weiß, dass ich Recht habe", sagt sie schmunzelnd. "Candrakirti war ein Buddhist, kein pragmatischer Philosoph. Er strebte die Erleuchtung an. Das ganze Ziel dieser logischen Spitzfindigkeiten war, einen transzendentalen Zustand zu erlangen, ein Buddha zu werden und all den armen Lebewesen, die quasi unsere Welt herbeihalluzinierten, auf die Sprünge zu helfen. Das ist ein sehr anderer Kontext, als wenn man in der Universität im Philosophie-Institut sitzt."

Wien als Oase der Forschung

Sich ganz auf das Vergleichen von Manuskripten konzentrieren zu können, ist in der sich immer schneller drehenden Welt der Wissenschaften selten. "Dieses Institut ist eine Oase. Deswegen bleibe ich in Wien", bekräftigt MacDonald. Durch ausgezeichnete weltweite Kontakte hat das Institut außerdem Zugang zu sehr raren Manuskripten. Die so entstehenden Übersetzungen sind daher wahrlich preisverdächtig. (Anna Sawerthal, 12.10.2017)