Der britische Dirigent Leo Hussain über den Stil bei "Wozzeck": "Für mich ist Alban Berg ein romantischer Komponist."

Marco Borggreve

Wien – Wieso haut einen dieses Libretto immer wieder um? Wieso wirkt dieses 180 Jahre alte Dramenfragment über einen gutmütigen, gedankenvollen, von widrigen Lebensumständen zerquetschen Menschen, als ob es gestern entstanden ist? "Und Büchner war noch so jung, als er es geschrieben hat!", ergänzt Leo Hussain. "Er hat einen Zeitungsbericht als Inspiration gehabt und daraus dieses kraftvolle Stück gemacht. Die Zentralfrage ist immer aktuell: Können wir unser Schicksal selbst bestimmen oder bestimmen die Umstände unser Leben?"

Ungewöhnlich ist auch, dass Alban Bergs knapp hundert Jahre alte Umsetzung des Stoffs Eingang in die Ohren und Herzen einer breiten Hörerschaft gefunden hat: eine atonale Oper, die Formen von Suite, Sinfonie oder Invention in ihre Struktur integriert. "Berg ist für mich wie Brahms. Brahms konnte komplexe Sachen wie eine Doppelfuge schreiben, aber was man hört, ist einfach nur wunderschöne Musik", so Hussain. "Berg hat erklärt, dass ihm einige Zusammenhänge erst Jahre nach der Fertigstellung bewusst geworden sind. Er hat sich seiner handwerklichen Fähigkeiten intuitiv bedient. Bei ihm spürt man eine tiefe Emotionalität – mehr als bei Anton Webern. Für mich ist Berg ein romantischer Komponist."

Darf man das?

Der 1978 geborene Brite Leo Hussain dirigiert Bergs Wozzeck in einer Kammermusikfassung. Geht das, darf man das? Hussain konzediert: Natürlich frage man sich als Dirigent, ob man bei einer so wundervollen Musik Abstriche machen dürfe. Er selbst hat die Oper in seiner Zeit als Musikdirektor des Salzburger Landestheaters (2009-14) mit einer noch kleineren Besetzung aufgeführt. Sein Resümee: besser so als gar nicht.

In Salzburg hat die Sache funktioniert, Hussain hofft, dass es im Theater an der Wien auch klappt. Dem Dirigenten stehen hier 41 Musiker (der Wiener Symphoniker) zur Verfügung; in der von Eberhard Kloke erstellten Fassung wurde vor allem der Bläserapparat verschlankt, es wurden etwa die vier Trompeten auf zwei reduziert. "Es gibt ganz viele Stellen, wo wir auch in dieser Besetzung wundervollen Berg spielen dürfen."

Das Gute sei auch, dass die Musiker im Orchestergraben Luft und Raum hätten, frei ausspielen könnten und er das Orchester nicht immer auf mezzoforte herunterdimmen müsse. "Das Publikum muss die Musik nicht nur hören, das Publikum muss sie auch körperlich spüren!" Wie war die Probenarbeit mit Florian Bösch? "Seine Stimme ist unglaublich farbenreich, und er brennt für dieses Stück", so Hussain. "In jeder Sekunde der Probe ist er völlig in dieser Rolle drin, ich will mir gar nicht vorstellen, wie müde er am Abend ist! Wir sind beide der Meinung, dass Wozzeck eigentlich kein modernes Stück ist. Berg hat es als Belcanto geschrieben, der Sprechgesang soll auf Belcantoweise interpretiert werden."

Keine Opernfabrik

Hussain, der bei London aufwuchs, wohnt in Salzburg. "Ich fühle mich wohl in Österreich, der Respekt für Kultur ist enorm. Ich habe mich immer als Europäer gefühlt, aber nach den Ereignissen des letzten Jahres fühl ich mich immer weniger als Brite." Das Theater an der Wien bezeichnet er als sein Lieblingshaus: "Es ist keine Opernfabrik wie andere Häuser, man hat exzellente Bedingungen. Alles ist hier auf die Kunst fokussiert." Er hat hier ein halbes Dutzend Produktionen geleitet, mit Robert Carsen arbeitet er erstmals: "Carsen will die Geschichte mit simplen Mitteln erzählen, und er zeigt, dass die Wozzeck-Welt vom Militär bestimmt wird", verrät Hussain. Und: "Wir sind uns beide einig, dass Wozzeck fast der Einzige im Stück ist, der nicht wahnsinnig ist."

Im Souterrain kann man eine Stunde vor Vorstellungsbeginn eine Ausstellung der Alban-Berg-Stiftung über Bergs "Wozzeck" besuchen. (Stefan Ender, 12.10.2017)