Bevor in Boston im Herbst die Universitäten und Colleges wieder so richtig ihren Betrieb aufnehmen, ist die Stadt mit dem Moving Day beschäftigt, denn viele Wohnungen wechseln am 1. September ihre Mieter.

Foto: Ursula Schersch

Jack Finnegan hat gerade erst begonnen, den gemieteten Laster zu füllen. Sein Hab und Gut steht bereits auf der Straße.

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Pui San schultert Stühle, die sie auf der Straße entdeckt hat.

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Die Folge des Moving Day sind Staus und gratis Secondhandmöbel. Doch die Behörden warnen vor Bettwanzen.

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Für Branchen, die direkt oder indirekt mit Umzug zu tun haben, ist der September die geschäftigste Zeit.

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Jack Finnegan hat gerade erst begonnen, den gemieteten Laster zu füllen. Sein gesamtes Hab und Gut hat er bereits auf dem Gehweg platziert: "Damit's schneller geht." Ganz fachgerecht ist der Wagen nicht geparkt, er blockiert einen Teil der Straße sowie fast den gesamten Gehsteig. Am 1. September herrscht in der Universitätsstadt Boston, Massachusetts, Ausnahmezustand. Da wechseln knapp zwei Drittel der mehr als 165.000 Mietverträge Bostons die Besitzer. Fast jedes Jahr geht damit ein Verkehrschaos mit Umzugswägen, die nicht immer ganz kontrolliert die Straßen entlangrollen, einher.

Gemeinsam mit seinem Wohnungskollegen zieht Finnegan in eine Wohnung, die näher an der Boston University liegt. "Ich habe gerade noch gelesen, dass wir den Storrow Drive nicht befahren dürfen. Mit unserem Truck wären wir glatt unter einer Brücke entlang des Storrow Drive steckengeblieben", sagt der Masterstudent.

Der Storrow Drive, eine vielbefahrene Straße entlang des Charles River, wird Übersiedelnden mit ihren gemieteten Umzugswägen aufgrund seiner niedrigen Brücken immer wieder zum Verhängnis: Trotz der vielen Warnungen, die Medien und die Polizei jährlich vor dem Moving Day wiederholen.

Dominanter Kalender

"Die meisten Probleme bereiten uns aber Delikte wie Falschparken, Parken in zweiter Spur oder Blockieren der Fahrradstreifen", so Jeremy Warnick, Sprecher des Cambridge Police Departments.

Warum aber entschließt sich eine Stadt dazu, den 1. September zu ihrem persönlichen Moving Day zu machen? "Mit September starten alle Unis und Colleges ihr neues akademisches Jahr", sagt Immobilienmakler Steven Wax. "Boston und Umgebung beherbergen besonders viele höhere Bildungseinrichtungen. Viele Studenten und das Unipersonal suchen nach Wohnungen."

Boston zählt 35 Universitäten und Colleges mit mehr als 150.000 Studierenden. Nimmt man Bostons Vorort Cambridge mit Einrichtungen wie den Elite-Unis Harvard und Massachusetts Institute of Technology (MIT) dazu, sind es knapp 50.000 Studierende zusätzlich. Über die Jahrzehnte hat sich so in Boston auch abseits der Unis ein Mietzyklus etabliert, der mit September beginnt.

Hohe Mieten

Die Mietpreise in Boston und Cambridge sind alles andere als studierendenfreundlich. Ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft außerhalb des Campus kostet monatlich zwischen 800 und 1.500 Dollar (umgerechnet rund 700 bis 1.300 Euro), Ein-Zimmer-Wohnungen sind ab 1500 Dollar zu haben, für eine Bleibe mit eigenem Schlafzimmer werden 1.800 bis 2.100 Dollar (1.500 bis 1.800 Euro) hingeblättert.

Für Branchen, die direkt oder indirekt mit Umzug zu tun haben, ist der September die geschäftigste Zeit. So etwa für den Umzugswagenverleiher U-Haul. "Unsere zwei Filialen in Boston und Cambridge sind für Anfang September jährlich ausgebucht. Wir empfehlen, mindestens ein bis zwei Monate im Voraus zu reservieren", sagt Jeff Lockridge. Um sich einen Parkplatz direkt vor der Haustür zu sichern, bieten die Städte gegen eine Gebühr an, Parkplätze für einen oder mehrere Tage zu mieten. Dies verärgert oft Anrainer, da dies die Parkplatznot verschärft.

Möbelrecycling

Vieles, was beim Übersiedeln aussortiert wird, landet in Secondhandläden oder auf der Straße. James Harder vom Wohltätigkeitsverein Goodwill Boston bestätigt einen deutlichen Anstieg an Sachspenden Anfang September in den Goodwill-Shops. Meist sind es Sofas, Matratzen, Schreibtische, Kommoden, Haushaltsgeräte und Lampen, die auf den Gehsteigen zurückbleiben. Dies ist für den einen oder anderen oft eine Gelegenheit, sich mit Secondhandstücken einzurichten, denn Möbel sind in den USA deutlich teurer als in Österreich.

Andere tauschen Möbel, wenn ihnen die Stücke von der Straße besser zusagen als ihre eigenen. So auch Pui San. Die Architektin ist mit ihrem Mann, einem Doktoranden am MIT, von Singapur nach Cambridge übersiedelt. In der Nähe des Campus schultert sie Stühle, die sie entdeckt hat. "Der September ist die richtige Zeit, um die Wohnung aufzumöbeln." Ob all ihre Möbel aus zweiter Hand stammen? "Einiges haben wir gekauft, etwa unsere Matratze. Man weiß nie, ob sie mit Wanzen verseucht ist."

In der Tat warnen Behörden immer wieder davor, gepolsterte Möbel von der Straße in die eigene Wohnung zu bringen. Die Gefahr von Bettwanzen sei gegeben, und die Tiere wieder loszuwerden ein schwieriges Unterfangen.

Unter Studierenden ist der 1. September in Boston als Allston-Christmas bekannt. In Allston, einer studentischen Ortschaft Bostons, landen besonders viele Möbel auf der Straße. Ein Student wühlt in einer Schachtel mit Haushaltsgegenständen am Straßenrand und packt Tassen, Besteck und Töpfe ein: "Das ist ja unglaublich. Wer wirft so was weg?"(REPORTAGE: Ursula Schersch aus Boston, 16.10.2017)