Kurt Rydl: "Ich singe 30 bis 40 Abende pro Jahr und nicht mehr über 100. Wenn man nicht mehr so viel singt, muss man aber mehr trainieren, sonst werden die Stimmbänder zu zwei Holzstückchen."

Foto: Volksoper

STANDARD: Intrigen, Verleumdungen, Gewalt im Hause Moor. Im Therapeutendeutsch würde man das wohl eine dysfunktionale Familie nennen. Sie haben zusammen mit Regisseur Alexander Schulin doch sicher Ursachenforschung betrieben. Was haben Sie als Vater falsch gemacht?

Rydl: Unterschiedliche Zuneigung innerhalb einer Familie kann Neid hervorrufen, und der kann in Hass münden – so wie hier. Der ältere Sohn darf studieren, der jüngere wird negiert. Der Vater bekennt seine Schuld und geht auch fast daran zugrunde. Aber ich singe in dieser Produktion ja auch noch den Moser: den Priester, der den Sohn verdammt. Er ist hier quasi das Gewissen des Vaters – ein Geist, der ihm den Strick reicht.

STANDARD: Wie lange braucht es, bis eine Partie verinnerlicht ist?

Rydl: Die italienischen Partien sind einfacher als ein Strauss. Bis man den Ochs kann, braucht es bis zu fünfzehn Vorstellungen. Bei Wagner ist die Schwierigkeit das Einteilen der stimmlichen Kräfte. Bei den alten Hasen unter den Dirigenten – sei es Haitink, Sinopoli, Muti oder Mehta – war es noch so, dass sie sich vor einer Vorstellung mit dir hingesetzt und die Tempi besprochen haben.

STANDARD: Gab es bei Dirigenten auch positive Veränderungen?

Rydl: Karajan wurde nur der Chef genannt, er hatte eine gewisse Unnahbarkeit. Auch Karl Böhm war nicht einer, dem du auf die Schulter geklopft hast. Aber beide hatten auch unglaubliches Wissen. Heute nehmen die Youngsters oft ein Tempo, bei dem der Text keinen Sinn mehr macht.

STANDARD: Sie haben über 1.000 Vorstellungen Erfahrung an der Staatsoper. Sehen Sie das Haus auf dem richtigen Weg?

Rydl: Wichtig ist, dass man die Tradition des Hauses und sein Publikum ernst nimmt. Früher war Stuttgart eine Art Winter-Bayreuth. Wolfgang Windgassen war der Chef, die haben fünfmal Oper gespielt. Heute ist Stuttgart das Opernhaus des Jahres, sie spielen aber nur mehr einmal pro Woche Oper und spielen mit den Inszenierungen das Haus leer. Für wen spielen wir? Fürs Publikum oder fürs Feuilleton? Was die Position des Staatsoperndirektors anbelangt, ist mein Ideal, dass der Direktor etwas von einem La Roche aus Strauss' Capriccio hat. Der sagt zu Künstlern: Ihr seids alle meine Kinder! Das war in der Zeit von Holender nicht immer so. Die neue Direktion hat eine gewisse Beiläufigkeit mir gegenüber.

Aber ich habe mit 70 Jahren ein Alter erreicht, wo ich sage: Ich muss nicht mehr. Ich widme mich internationalen Aufgaben: Ich habe gerade in Buenos Aires einen Rosenkavalier gesungen. Da hat der Regisseur aus dem Ochs aber leider einen Offizier gemacht ...

STANDARD: Sie leiden unter der Deutungsfreude der Regisseure?

Rydl: Ich hab über 3.700 Vorstellungen gesungen, da gab es Verstaubtes, Modernes und Zeitloses. Ich will keine Walküre mit Blechbusen! Aber ich habe meine Schwierigkeiten damit, wenn der Siegfried mit einem Steckenpferd reinkommt. Und wenn aus der Gibichungen-Halle eine Dönerbude wird und die Leute sagen: selten so gelacht in einer Götterdämmerung! Manchmal kommen Regisseure aber auch ohne Konzept zur ersten Probe, lassen sich dann etwas vorspielen und verkaufen es dann als ihre eigene Idee. Das habe ich auch schon erlebt.

STANDARD: Bässe sind ja, im Gegensatz zu den Tenören, oft mit einer langen Karriere gesegnet, so wie Sie. Dennoch: Gibt es Dinge, gibt es Partien, die nicht mehr gehen?

Rydl: Ich habe dem Publikum in Buenos Aires und mir bewiesen, dass der Rosenkavalier-Ochs, der zum Schwersten gehört in dem Fach, heute genauso gut funktioniert wie vor 20 Jahren. Ich lasse meine Karriere jetzt auslaufen, singe 30 bis 40 Abende pro Jahr und nicht mehr über 100. Wenn man nicht mehr so viel singt, muss man aber mehr trainieren, sonst werden die Stimmbänder schnell zu zwei Holzstückchen.

STANDARD: Sie wurden gerade 70. Ist das eine Gelegenheit, innezuhalten und zurückzublicken?

Rydl: Das mache ich tatsächlich erstmals. Ich lasse zusammen mit meiner Frau die Dinge Revue passieren, die tollen Erlebnisse mit Bernstein, mit Karajan und Sinopoli. Da kommt eine gewisse Wehmut auf, aber eine positive. Ich finde es schade, dass ich meine Erfahrung hier an der Staatsoper nicht mehr zeigen kann. (Stefan Ender, 13.10.2017)