Es sei wichtig, ständig neue Curricula zu schaffen. "Was man aber nicht vergessen darf: alte abzubauen", sagt ETH-Präsident Lino Guzzella.

Foto: Gian Marco Castelberg

STANDARD: Europaweit fehlen IT-Fachkräfte. Sehen Sie sich als Präsident einer wichtigen technischen Hochschule in der Verantwortung?

Guzzella: Ja klar! In der Schweiz und in Österreich haben wir ein Demografieproblem: Die Babyboomergeneration geht in Pension, sie zu ersetzen wird nicht einfach. Außerdem: Die Technik entwickelt sich so rasant, dass ein Riesenbedarf an gutausgebildeten Menschen besteht. Alle technischen Hochschulen sind hier in der Pflicht, um die Lücke zu füllen.

STANDARD: Gibt es ausreichend Studienplätze? Und genug Junge, die das studieren wollen?

Guzzella: An der ETH – und ich denke, das gilt auch für die anderen Hochschulen – ja. Mint-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik, Anm.) sind nicht überlaufen. Zur anderen Frage: Wir müssen ungenützte Potenziale ausschöpfen. Wir möchten beispielsweise noch mehr Frauen ansprechen. Ein Talentepool sind auch Menschen mit Migrationshintergrund. Ich bin überzeugt: Es gibt genug Talente, man muss sie nur motivieren.

STANDARD: Ist man da an einer Uni nicht etwas spät dran?

Guzzella: Sie haben völlig recht. Wenn sich jemand zuvor noch nicht für Technik interessiert hat, können wir das nicht mehr ändern. Dennoch können wir etwas beitragen. Wir organisieren Sommercamps, Schnuppertage und Roboterwochen, engagieren uns in der Lehrerausbildung.

STANDARD: Wir haben bereits über rasante Entwicklungen gesprochen. Stellen sich Hochschulen schnell genug darauf ein?

Guzzella: Universitäten sind oft, nicht immer, Treiber dieses Wandels. Ohne Grundlagenforschung und die Umsetzung in Anwendungen würde er gar nicht stattfinden. Ob wir in der Ausbildung, bei den Studienplänen, schnell genug sind, ist schwer zu beantworten. Sie dürfen aber nicht vergessen: So ein Studienplan muss durchdacht sein, den kann man nicht einfach über den Haufen werfen. Es würde aber sicher nicht schaden, wenn Universitäten flexibler wären. An der ETH versuchen wir das.

STANDARD: Sie bieten ab diesem Semester einen neuen Studiengang - Datenwissenschaft – an. Es gibt erstmals einen Medizinbachelor.

Guzzella: Den spezialisierten Master in Datenwissenschaft haben wir wegen des großen Bedarfs geschaffen. Der Medizinbachelor ist ein Pilot. Die Medizin wird immer wissenschaftlicher, quantitativer. Dem trägt das Studium Rechnung. Die Ärztinnen und Ärzte, die wir ausbilden, lernen auch von Anfang an Informatik. Es ist wichtig, ständig neue Curricula zu schaffen. Was man aber nicht vergessen darf: alte abzubauen. Das braucht Mut.

STANDARD: Welches Studium wurde kürzlich abgeschafft?

Guzzella: Spontan kommt mir Seilbahntechnik in den Sinn, lange Jahre ein wichtiges Fach.

STANDARD: Sie plädieren immer wieder für Leistung, die Studien an der ETH seien "ziemlich vollgestopft" – gleichzeitig halten Sie kritisch-kreatives Denken für eine Schlüsselqualifikation. Wie passt das zusammen?

Guzzella: Ich gebe zu, dass das ein Widerspruch ist – aber nur scheinbar. Denn einerseits ist heute enormes Fachwissen nötig, um vorne dabei sein zu können, andererseits braucht es kritisches Denken. Es gilt, kreativ zu sein und Neues zu entwickeln. Darin versuchen wir unsere Studierenden zu fördern. Ein pädagogisches Konzept dazu ist der "Flipped Classroom": Der Stoff wird zu Hause gelernt und an der Uni wird geübt. Das kann dazu animieren, Dinge infrage zu stellen. Ich habe mir auch in Vorlesungen erlaubt, falsche Lösungen anzugeben, und gewartet, dass die Studierenden reagieren.

STANDARD: Und wie?

Guzzella: Manchmal haben sie es bemerkt. Manchmal hat es zu lange gedauert. Deshalb hatte ich immer einen Doktoranden als "falschen Studenten" dabei. Wenn niemand den Fehler entdeckt hat, hat er reagiert. Es war immer wieder verblüffend zu sehen, wie Studierende einfach fleißig abschreiben. Das will ich nicht. Ich will, dass sie denken.

STANDARD: An der ETH gibt es eine "Critical Thinking Initiative". Ist all das Teil davon?

Guzzella: Ja. Es gibt jedoch weitere Maßnahmen. Zum Beispiel haben wir eine Zeitung, die nennt sich 42. Sagt Ihnen das etwas?

STANDARD: Im Roman "Per Anhalter durch die Galaxis" ist 42 die von einem Supercomputer errechnete Antwort auf alles.

Guzzella: Genau. Wir machen uns den Spaß, eine etwas schräge Campuszeitung herauszugeben, wo freie Geister versuchen, kritisch zu denken. Ich bin als Mensch der Aufklärung überzeugt: Wir kommen nur weiter, wenn wir das Bestehende verstehen, Schwächen identifizieren und Verbesserungen vorschlagen. Es kommt aber eine weitere wichtige Komponente hinzu: Moral.

STANDARD: Das müssen Sie bitte näher ausführen.

Guzzella: Als Ingenieur hat man einen enormen Einfluss auf die Entwicklung der Gesellschaft. Deshalb sind Werte wichtig: echte Lösungen voranbringen zu wollen, nicht nur Scheinlösungen. Ein Problem ganzheitlich zu betrachten, auch wenn es unbequem ist. In der Autoindustrie hat man zum Beispiel lange das Gesetz dem Buchstaben nach erfüllt, aber nicht dem Sinne nach – unsere Absolventen sollen diese Wertediskussionen führen.

STANDARD: Warum hinkt der deutschsprachige Raum bei Innovationen hinterher? Sie meinten einmal, wir seien "saturiert".

Guzzella: Uns geht es gut. Die Motivation, ein Unternehmen zu gründen, ist viel kleiner als zum Beispiel in Israel. Dort gibt es weniger Firmen, weniger Möglichkeiten. Man muss quasi gründen. Geht es einem gut, geht man weniger Risiken ein.

STANDARD: Gerade dann könnte man doch welche eingehen?

Guzzella: Scheitern wird immer noch stigmatisiert. Deshalb haben die Jungen hier ein Problem mit Risiken, obwohl das Auffangnetz gut ist. In den USA ist das anders, dort gibt es sogar einen Witz: Ein Investor investiert nur, wenn das Start-up mindestens zweimal bankrottgegangen ist.

STANDARD: Sollten Wissenschaft und Wirtschaft bei Innovationen stärker zusammenarbeiten?

Guzzella: Manche sind der Meinung, dass Wissenschaft und Wirtschaft nicht kompatibel seien. Ich teile diese Meinung nicht – plädiere für eine noch stärkere Zusammenarbeit. Wichtig sind aber Unabhängigkeit, Freiheit der Forschung und Transparenz. Ganz grundlegende Forschungsfragen – wie zur Technikfolgenabschätzung – wird die Industrie auch nie finanzieren wollen. Das ist Aufgabe des Staates.

STANDARD: Welche große technologische Neuerung erwarten Sie bis zum Ende Ihrer Amtszeit?

Guzzella: Ich weigere mich, Prognosen über die Zukunft abzugeben. Ich lag schon so oft falsch. Aber was ich Ihnen sagen kann: In den nächsten zehn Jahren wird die ETH wie jede andere gute Universität mit Freude daran arbeiten, diese Zukunft mitzugestalten. Immer mit dem Ziel, dass es uns Menschen besser geht. (Lisa Breit, 20.10.2017)