"Dach, Himmel, Schnee" von Alexander Surikov, Russland.
Foto: Michael Freund

Krasnojarsk – Was ist aus den russischen Dörfern geworden? Sie waren einmal eine kleine Welt, ein in sich geschlossenes Universum, in dem wenn nicht Freiheit, dann zumindest eine gewisse Form von Frieden geherrscht haben soll – Kriege waren anderswo, in die musste man ziehen für Menschen, die man nicht kannte. Das russische Wort мир, "Mir", bedeutet zugleich Welt und Frieden, und es ist auch ein altes Wort für Dorf.

Was ist von dieser idyllischen sprachlichen Übereinkunft in der Wirklichkeit, nach Zwangskollektivierung und Vernichtung der traditionellen Strukturen, übriggeblieben? Ein Jahrhundert nach der Russischen Revolution, dem Ende des agrarischen Zarenreichs, versammelt ein Projekt künstlerische Arbeiten, die nach Antworten auf diese Frage suchen.

Dörfliche Realitäten

Simon Mraz, der Direktor des Österreichischen Kulturforums in Moskau, hatte die Idee dazu. Rund drei Dutzend Künstler vor allem aus Österreich und Russland, einige aus Deutschland und den Niederlanden, die er mit Co-Kuratoren ausgewählt hatte, setzten sich über einen Zeitraum von bis zu zwei Jahren mit heutigen dörflichen Realitäten auseinander, abseits der großen Städte, im Ural oder im fernen Jakutien.

Ein wuchtiger, vieleckiger Klotz: das Museumszentrum von Krasnojarsk.

Das Museumszentrum von Krasnojarsk in Sibirien (eine Million Einwohner, fünf Flugstunden östlich von Moskau und Hauptstadt einer Region, die viermal so groß ist wie Frankreich) stellt nun die Ergebnisse aus, als Teil der gleichzeitig dort stattfindenden 12. Museumsbiennale.

Ihre Erfahrungen haben die Beteiligten mal unmittelbar einsichtig gemacht, mal stärker durch persönliche oder theoretische Filter gebrochen, hier sinnlich angeeignet, dort nüchtern aufgearbeitet.

Rote-Rüben-Suppe meets Information Technology

Alexandra Anikina (RU) etwa dokumentiert das Bauernhaus ihrer Großeltern in einem Video wie auf einem Spaziergang und denkt auf der begleitenden Tonspur über Gärten und Wälder nach: Wo endet das Vertraute, wo beginnt die Gefahr, wo ist man aufgehoben – durchaus auch im philosophischen Sinn. Keine kunstvolle Verfremdung, dafür eine kluge Abwägung ländlicher Zustände, die an Tschechow anklingt.

Am anderen Ende des Interpretationsspektrums, weit weg vom Abbilden im engeren Sinn, steht die russische Gruppe "Where Dogs Run". Ihr Ausgangspunkt ist die Rote-Rüben-Suppe Borschtsch, so klassisch russisch bäuerlich, wie's nur geht.

Maschine zur Erzeugung verschiedener Borschtsch-Mischungen, abhängig von prozentuellen gedanklichen Anteilen in Texten; Künstlerkollektiv Where Dogs Run (Russland).
Foto: Michael Freund

Aber nun: Borschtsch meets Information Technology! Und zwar wie folgt: Die Gruppe verglich Texte von vor 100 Jahren mit solchen von heute, listete die Anteile bestimmter Inhalte in Prozenten auf, ordnete diese Mengenangaben den Ingredienzien der Suppe zu und lässt nun computergesteuert zwei Borschtsch-Varianten aus diesen Anteilen kochen. Das Ergebnis nennt sich Transzendenz-Index, hat mit dem Thema Mir höchstens auf der kulinarischen Ebene zu tun, wird aber vom Publikum am Eröffnungsabend bereitwillig konsumiert.

Was dazwischen alles an orts- und situationsbezogenen Arbeiten ausgestellt ist, lässt vermuten, wie vielfältig das ländliche Russland immer noch oder wieder präsent ist.

Schamanische Sphären

Dörfer sind süßes Versprechen. Der Club Fortuna (Xenia Lesniewski, Julia Rublow, Sarah Sternat, Ö) wurde vom Ort Schiraevo eingeladen und kam zum Schluss, dass süßes Karamell in überzeugendster Weise das Gefühl des Willkommenseins wiedergibt. Auf einer Art Karamell-Schüttbild ist der erhitzte braune Stoff zu einer dreidimensionalen physischen Verlockung geronnen.

Karamell-Wand; von Club Fortuna (Xenia Lesniewski, Julia Rubljow, Sarah Sternat, Österreich).
Foto: Michael Freund

Dörfer entführen in andere Welten. Kyrgyday liegt in Jakutien im nördlichen Sibirien, die Bewohner kommunizieren mit der sie umgebenden harschen Natur mithilfe von Schamanen. Markus Hanakam und Roswitha Schuller (Ö) haben ein Fenster von zwei Wochen – nach vielen Monaten Vorbereitung – genutzt, um eine Schamanin dabei aufzunehmen, wie sie mit Tieren und Geistern in Kontakt tritt, sich mit Tönen und Tanz in ihre Sphären begibt.

Dörfer schützen Andersdenkende. Vor vier Jahrhunderten spaltete sich die russische Orthodoxie. Ein Teil, Altgläubige genannt, wurde verfolgt und zog sich in die Weiten der Wälder zurück. Bis heute halten sie sich vom Rest des Landes fern. Die Dokumentarfotografin Elena Tschernischowa (RU) hat den Alltag in einem ihrer Dörfer festgehalten, konsequenterweise hält sie die genauen Ortsangabe geheim.

Keine ländliche Idylle

Dörfer bedeuten bitteren Überlebenskampf. Anya Zholud (RU) wohnt in einem Ort nicht weit von Moskau. Er ist keine ländliche Idylle, im Gegenteil, er zehrt an ihr, viele Bewohner sind depressiv, krank, süchtig, allein. Darauf hat die Künstlerin reagiert und stellt das Dorf als skelettartige, tote schwarze Umrisse von Häusern, Betten und Gräbern dar; ein lebloses Schachbrett voller leerer Schachteln, wie frühe Suburbs, aber ohne Sonne.

Dorf, Psychiatrie, Friedhof – Drahtarbeiten; Installation von Anna Zholud, Russland.

Dörfer machen Vielfalt möglich. Der Genetiker und Pflanzenforscher Nikolai Wavilow hatte in der Zwischenkriegszeit Samen von seltenen Getreidesorten in seinem Institut in Leningrad gesammelt. Sie sollten die Landwirtschaft der Sowjetunion verbessern. Doch Wavilow fiel bei Stalin in Ungnade, und während seine Mitarbeiter das Institut in der von der Wehrmacht belagerten Stadt bis zur Selbstaufgabe hüteten, brachten deutsche Forscher Teile der Bestände in das steirische Schloss Lannach, eine Außenstelle von Konzentrationslagern, und arbeiteten mit ihnen weiter.

Sergei Kischenko und Künstler und Wissenschafter aus Russland und Österreich (die Gruppe Resanita: Anita Fuchs und Resa Pernthaler) gehen von dieser Vorgeschichte aus und präsentieren Biodiversität mit Beispielen aus den neuen alten Zuchtergebnissen. Sie knüpfen damit an Vorstellungen von kleinteiliger, dörflicher Landwirtschaft an, gegen die Bestrebungen von Monokulturen.

Unbekannte Wirklichkeit

Die Gruppe "Laktose, Osmose, Kolchose", Kunststudenten in Linz, hat sich bereits im vergangenen Jahr im letzten sowjetischen Staat Belarus mit den Folgen der Kollektivierung von Dörfern beschäftigt. Mraz, auch damals der Ideengeber, hat sie nach Krasnojarsk eingeladen. Beton und Pastellfarben, viel Ornamentik und zugleich Monotonie – das ist, aus den gegenwärtigen Arbeiten zu schließen, vor allem hängengeblieben.

Die Vorgabe "Mir" hat mehr und Vielfältigeres gezeitigt, als die Kuratoren erwartet hatten. Nicht eine "objektive" Bestandsaufnahme russischer Dörfer war ja die Intention, sondern Auseinandersetzungen mit einer den Meisten völlig unbekannten Wirklichkeit.

Die Künstler aus Russland und Österreich, die sich zumeist erst kurz vor der Eröffnung kennenlernten (und bedauerten, dass sie sich nicht früher austauschen konnten), scheinen ähnlich souverän mit den Spielarten der gegenwärtigen Kunstproduktion umzugehen – die Infragestellung traditioneller bildender Kunst war ebenso präsent wie eine Suche nach neuen Verbindlichkeiten.

Sinnbild verblichenen sowjetischen Glanzes

Das Museumszentrum Krasnojarsk bildet dazu eine Kontrastfolie. Der Veranstaltungsort wurde in späten 1980er-Jahren als – was man damals noch nicht wusste – letztes Lenin-Museum der UdSSR gebaut, ein wuchtiger, vieleckiger Klotz, brutalistisch wie von Le Corbusier, innen ein Labyrinth, außen ein trauriges Sinnbild verblichenen sowjetischen Glanzes. Die permanente Ausstellung zu Lenin – teils im Originalzustand, teils überarbeitet, voller Gewissheiten und Pathos – lässt die künstlerischen Interventionen zu Frieden, Welt und Dorf nur umso prägnanter hervortreten. (Michael Freund aus Krasnojarsk, 14.10.2017)