Verbindet Themen und Orte: Valeska Grisebach.

Foto: Viennale

Der Begriff Berliner Schule ist keine urbane Verortung. Er versammelt vielmehr Regisseurinnen und Regisseure, die seit Anfang der 1990er-Jahre mit besonderem Formbewusstsein an einem "neuen Realismus" arbeiten. Valeska Grisebachs aufregende Filme erforschen – mit avantgardistischen und dabei doch ganz bescheiden anmutenden Mitteln – den Rahmen und die Techniken naturalistischen Erzählens.

Die neuen Westerner reiten durch den Osten: Meinhard Neumann in Valeska Grisebachs "Western".
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Grisebach hat ihr Studium an der Filmakademie in Wien absolviert, unter anderem bei Michael Haneke. Ihren knapp einstündigen Abschlussfilm Mein Stern (2001) drehte sie in einem Gastsemester in Berlin, wo sie auch inzwischen wieder lebt. In Mein Stern ließ Grisebach ihre jungen Laiendarsteller auf der Basis einer Drehbuchskizze improvisieren, sah diesen Teenagern beim Herantasten an die Liebe zu und lieferte dabei ganz beiläufig auch ein Bild der Postwendejahre in Berlin-Mitte.

Mein Stern steht in einer naturalistischen Übergangszone, in der immer wieder Referenzen zum Kino Maurice Pialats oder zum jungen Milos Forman sichtbar werden. In ihrer berührenden Liebesgeschichte Sehnsucht (2006) transportierte sie die Beziehungsfragen aus Mein Stern in die Welt der Erwachsenen und betrachtete, wie wir uns als Akteure unseres eigenen Lebens "an Geschichten anschließen" (Grisebach), an Liebesmythen, romantische Konzepte, Lebensdramatik.

Elf Jahre danach präsentiert Grisebach nun ihren dritten langen Spielfilm Western. Erneut mit nonprofessionellen Akteuren gedreht, die sie auf Baustellen oder vor Ort im bulgarischen Blagoewgrad gecastet hat, folgt der Film einer Gruppe von Bauarbeitern an die bulgarisch-griechische Grenze – ein Setting, in dem Grisebach Motive des Westerngenres in die europäische Gegenwart projiziert. Nicht zuletzt dank der unerhörten Präsenz ihrer Akteure ist das ein großes Abenteuer.

STANDARD: Elf Jahre nach Ihrem Liebesfilm "Sehnsucht" erzählen Sie in Ihrem neuen Film "Western" von Bauarbeitern auf Auslandsmontage. Gibt es eine direkte Verbindung zwischen diesen Arbeiten?

Grisebach: Ich dachte, dass diese beiden deutschen Männerfiguren, der Held von Sehnsucht und der von Western, die Erwartung teilen, dass ihnen das Leben noch ein Abenteuer schuldet. Darüber könnte man eine Verbindung herstellen. Die Frage ist: Was schwirrt noch so an Legenden und Erzählungen in der Luft herum, mit denen man sich verbinden kann?

STANDARD: Eine solche Erzählung wäre auch die Idee des Duells, das in "Western" eine große Rolle spielt.

Grisebach: Ich habe mich lange gefragt, ob ich den Showdown wenigstens als Zielmarke erfüllen muss. Ich habe aber gemerkt, dass mich mehr interessiert, was die Männer darüber hinaus so verhandeln: die Frage von Status, die Frage, wie nahe ich jemandem anderen wirklich sein kann. Auch das, was die beiden Männer nicht trennt, sondern verbindet. Ich habe aber gemerkt, wie stark diese Idee des Duells ist, wie stark das Westerngenre ist und wie groß die Erwartungshaltung dadurch automatisch wird.

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STANDARD: Ist das auch das Duell einer Regisseurin mit einem Genre?

Grisebach: Auf jeden Fall gibt es viele Fallstricke. Das Genre hat mich schon als Kind in seinen Bann gezogen. Ich fand es immer schon spannend, welche Fragen hier verhandelt werden. Eine Gesellschaft konstituiert sich. Welche Spielregeln gelten da? Die des Stärkeren oder die der Empathie? All diese asozialen Männerfiguren, die dann vielleicht doch wieder nach Hause kommen wollen. Diese ungerührten Gesichter, hinter denen so viele Emotionen verborgen sind. Das waren Themen, die sich dann mit anderen verbunden haben, mit dem Heute, in Bezug auf Europa. Inwieweit man das Gefühl hat, man müsse sich größer machen als der andere. Eine latente Fremdenfeindlichkeit, die ich gar nicht nur Deutschland zuordne. Von daher war das Westerngenre nicht etwas, das ich knacken, sondern womit ich in Kontakt treten wollte.

STANDARD: Welche Westernfilme sollte man gesehen haben?

Grisebach: Winchester 73, My Darling Clementine, Brandos One-Eyed Jacks, Nicholas Rays Johnny Guitar, Clint Eastwoods Unforgiven, The Gunfighter mit Gregory Peck, The Searchers von John Ford.

STANDARD: Verbindet diese Filme in Ihren Augen etwas, das über das Genre hinausreicht?

Grisebach: Mir fallen bestimmt gleich noch ganz andere Filme ein. Bei Winchester 73 mit James Stewart finde ich interessant, wie sehr er auch immer der normale Mann ist, der aber irgendwann gefragt wird, ob er sich überhaupt noch vorstellen könne, wieder in sein altes Leben zurückzukehren. Das hat mich für die Figur des Meinhard in Western interessiert.

STANDARD: Die Frage nach dem Neuanfang scheint sich auch für Sie selbst mit jedem Film zu stellen. In "Mein Stern", der die Liebesgeschichten von Teenagern zusammen mit sehr jungen Akteuren rekonstruiert, und erneut in "Sehnsucht", in dem Sie dieselben Fragen mit Erwachsenen ganz neu entdecken. Ihre Methode scheint sehr aufwendig.

Grisebach: Die Wahrnehmung dieses Aufwands war bei Sehnsucht fast zu stark. Ich hatte damals nicht das Gefühl, dass ich etwas neu erfunden hatte. Man versucht immer, in Kontakt mit dem Material zu treten. Aber natürlich destilliert sich aus dieser Recherche dann etwas.

STANDARD: Vielleicht ist der Eindruck auch so stark, weil Sie in jedem Film mit Laiendarstellern arbeiten, die so viel einbringen.

Grisebach: In jedem Film mischen sich die Karten neu. Es ist ein interessanter Prozess, eine Verbindung zwischen Naturalistischem und Künstlichem herzustellen. Das Licht, die Figuren, die Körper, das Semidokumentarische, das hat inhaltlich nichts Perfektes, es steckt da ein Knirschmoment in der Berührung von Naturalismus, Überhöhung und Künstlichkeit. Mit Schauspielern würde der Film ganz anders aussehen. Diese Gruppe von Männern, die teilweise wirklich auf dem Bau arbeiten, hat eine Prosa, die ich gar nicht schreiben könnte. Ich dachte am Anfang, ich müsse selbst ein Schlagfertigkeitstraining machen. Sie sind extrem erfinderisch, und das war auch gut für den Film.

STANDARD: Sind diese Männer neue Westerner, groß geworden in der DDR, die nun in den Osten ziehen?

Grisebach: Man könnte auch fragen: Wer ist denn hier der Indianer? Ist das vielleicht doch Meinhard, der feminine Mann? Sind es die Bulgaren? Das Gute ist: Es geht ja nicht auf. Man kann das auch spielerisch lesen. (Robert Weixlbaumer, 14.10.2017)