Marie Jahoda, "Lebensgeschichtliche Protokolle der arbeitenden Klasse", Diss. 1932, € 26,90 / 392 Seiten. Studien-Verlag, 2017

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Sie ist das Kind eines Webers und einer Fabriksarbeiterin. Unehelich geboren in Brünn. Mit elf stirbt ihre Mutter, der Vater geht weg auf Arbeitssuche. Sie wohnt bei einer Frau, der sie für das Bett zahlen muss. Auf deren Vermittlung arbeitet sie einige Zeit in einer Fabrik. Sie verdient nicht viel beim Wolleklauben. Mit 19 kündigt ihr die Bettfrau, weil sie den Platz braucht. Das Mädchen findet zuerst einen Job als Hausgehilfin, geht dann nach Wien, wo sie in einer Greißlerei arbeitet. Dort bekommt sie außer dem Essen keinen Lohn. Sie lernt einen Buchdrucker kennen, bekommt mit ihm zwei Kinder, er stirbt, als das zweite drei Wochen alt ist. Da ist sie erst 24 Jahre.

All das erzählt sie – jetzt 74-jährig – der Studentin Marie Jahoda, die für ihre Dissertation in Wiener Versorgungshäusern Interviews führt. Es ist das Gespräch mit Frau "F15", das die junge Sozialwissenschafterin 1931 in Einrichtungen der Wiener Armenversorgung aufzeichnet. Die Arbeit gibt Auskunft über Lebensläufe und -verhältnisse der unteren Klassen von 1850 bis 1930. In den Versorgungshäusern verbrachten Männer und Frauen ihren Lebensabend, wenn sie chronisch krank, pflegebedürftig und mittellos waren. Die nun als Buch veröffentlichte Dissertation heißt Anamnesen im Versorgungshaus. Ein Beitrag zur Lebenspsychologie. Jahoda forscht am psychologischen Institut bei Charlotte Bühler, die sich der entwicklungspsychologischen Erkundung der menschlichen Lebensphasen verschrieben hat. Da blitzt Jahodas besonderer Blick auf: "Nicht beweisen, sondern entdecken, das Unsichtbare sichtbar machen." Ihre Interviews sind offen, bemüht um Erzählfluss, dazwischen gibt es Ergänzungsfragen. Die beste Zeit ihres Lebens war, als sie jung war, sagt die alte Frau. Die schwerste, als der Mann gestorben ist. Sie hatte dann nie mehr freie Zeit. Stress, Druck, Arbeit, Abhängigkeit und Armut prägten den Alltag. Wenn sie noch einmal auf die Welt käme, möchte sie am liebsten allein und ruhig leben.

In den Geschichten der 52 Männer und Frauen spiegeln sich die sozialen Verwerfungen eines Jahrhunderts wider. Die hohe Kindersterblichkeit, die miesen Arbeitsverhältnisse, die sozial-ständische Ordnung, aber auch das Ringen um Unabhängigkeit und Lebensfreude der Interviewten. Jahodas Stärke: Ihr empirischer Blick auf die konkrete Lebenswelt, ihr Interesse für Probleme von Menschen, die nicht im Licht stehen. Als Jahoda ihre Arbeit abgibt, ist sie in ein neues Projekt involviert: eine Studie über Arbeitslose in einem Dorf südlich vor Wien, in Marienthal. (Martin Schenk, Album, 19.10.2017)