Grafik: Felix Beny Grütsch

Die turbulenten Bedingungen der Nachkriegszeit haben auch in Österreich ein Konstrukt favorisiert, das als große Koalition die Beständigkeit einer eigenen, sozusagen bipolar strukturierten Partei erlangte. In ihr haben sich die Urpartner des Projekts Österreich in der Absicht zusammengefunden, sich trotz vorhersehbarer Konflikte aus denselben Grundstoffen demokratischen Gedeihens zu alimentieren. Eine ziemlich beste Freundschaft, der die zweimalige Allianz mit Bedingtdemokraten auf der nationalistischen Rechten nichts anhatte.

Was sich zurzeit in der österreichischen Innenpolitik abspielt, erscheint vielen als ein mutwilliger Versuch, die notorisch schwächelnde Koalition durch eine Konfrontation nach amerikanischem Muster abzulösen. Das bringt den Fels der Republik nicht zum Wanken. Der Schlussruf eines überheblichen Croupiers ist noch lange kein Aus für die ehrlich gebliebenen Spieler, auch wenn bereits manche von ihnen "so" nicht weitermachen wollten.

Für das Rien-ne-va-plus der ÖVP reichte diesmal das Erscheinen einer unfertigen Ikone, der sich ihre Anbeter so ausgeliefert haben wie Kubricks Vormenschen dem aus dem All eingedrungenen schwarzen Monolithen.

Österreich ist trotzdem nicht Kubricks Land. Die Impulse, die unübersehbar in die falsche Richtung drängen, sind nichts, was man nicht dies- und jenseits des Atlantiks so oder so ähnlich beobachten kann. Doch im Umfeld eines Shooting Kid verbinden sie sich zu einem Syndrom des unguten Gefühls. Umfragewerte über die genuinen Werte der Politik zu stellen ist keine österreichische Besonderheit. Doch bei Vorsprüngen, die sich aus keinen neuen Aussagen und Inhalten erklären, ist die schiere Zahl schon das Ziel. Wer diese Tages- und Trendwerte auf seine Seite gebracht hat, wird quasi zu einem, der mit dem Wähler tanzt.

Citoyen? Nein, Citizen Like

Er braucht sich dabei nicht mit der Frage aufzuhalten, wer sich hinter der Figur dieses Wählers verbirgt. Mit dem Bürger, dem Citoyen, der sich die Demokratie auf den Leib geschneidert hat, ist er keineswegs identisch. Abseits von statistischen Abstraktionen, der Leibspeis' der Experten, begegnet man diesem Typus von einer fliegenden Straßen- und Biergartenbefragung zur nächsten. Als zufälliges Dutzend wird er, um das vermeintlich Authentische zu pflegen, ohne Pardon und Sinn in jede Talkrunde eingespielt und verkörpert dort "die Bevölkerung".

Doch ist der digital konditionierte "Citize Like" nicht der ultimative Adressat, den Populisten im Visier haben. Wem sie tief ins Auge blicken und aus dem Herzen sprechen, sind "die Menschen", zu arglos und vergesslich, um einen, der mit ihrer Hilfe ganz hoch hinauswill, nicht zu "denen da oben" zu zählen. Einmal im Sattel, legen solche Menschenversteher von heut' auf morgen ihre wollige Verkleidung ab, verschanzen sich hinter den Zwängen des Machbaren.

Österreich ist nicht von und wie gestern. Dennoch sollte man vielleicht irgendwann anfangen zu beten, dass der gesunde Geist im gesunden Körper rechtzeitig aufwacht, bevor aus sieben Bedingungen der Vollmacht deren sieben mal sieben des Starkults werden.

Was Überflieger noch nie brauchen konnten, sind gewachsene, sperrige Institutionen. Kritische Fragen, abwägende Statements und Diskussionen, schwierige, oft schmerzliche Kompromisse, griffige Machtkontrolle und überhaupt der Part der zweiten Geige sind nicht ihr Ding. Für sie gliedert sich die politische Landschaft in ein Hochland für die Favoriten der Beliebtheit und dröge Niederungen, denen man, solange es geht, fernbleibt.

Ihr liebstes Kind ist die Bewegung. Nach eigenen Worten hat Emmanuel Macron "eine progressive soziale Bewegung" begonnen, um die "als steril empfundenen Spaltungen zwischen den Parteien zu überwinden". Er hätte sich als Gymnasiast besser an seine Geschichtslehrerin gehalten. Denn anders als im 19. Jahrhundert, als das freie Wählen noch nicht die Regel war, verrät seit den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts die in Marsch gesetzte Bewegung Politikverdrossenheit "von oben". Wenn sie sich mit der der von unten trifft, sind die Folgen ethisch unkalkulierbar. Heute messianisch auf "En marche" zu setzen heißt verkennen, dass die Demokratie die historische Antwort auf Bewegungen ist, nicht ihre Bedingung.

Man ist als Licht- und Leitfigur für Citizen Like heute in robuster Gesellschaft, wenn man die biblisch patentierte Ankündigung "Siehe, ich mache alles neu!" usurpiert und gleich populistisch unterfüttert: "Siehe, ich mache alles dicht!" Wen derlei Trumpismen nicht stören, findet auch nichts dabei, eine neue Bewegung ausgerechnet dafür zu wählen, dass sie für Grenzzäune und Einfanglager trommelt. Man kann ja später immer noch spenden.

Zum Draußenminister gewandelt, hat der neue Hoffnungsträger der Volkspartei, gelebtes Leben und Leiden erst noch vor sich, seinen Blick vom effizient gekappten Balkantrail, im Navi-Speak scheinheilig "Route" genannt, auf das Mittelmeer geworfen, die Tombe Méditerranée mit täglich mehrstelligen Zugängen.

Wenn auch erst angedacht und vorgeschlagen, käme es einem humanitären Grounding gleich, das auf einen Dante wartet, in die Heimatlosigkeit getriebene Nachbarn in Not in Endlagern einstacheln zu wollen und die einzige Bewegung, auf die sie ihre letzte Hoffnung setzen, ins Reich der unerfüllbaren Träume zu verbannen. En marche? Arrêt! Im heiligen Land Tirol lauern schon die Panzer mit den Riesenschaufeln.

Französischer Kurzschluss

Es müsste ein Kurzschluss ungesunden französischen Ausmaßes durchs Land gehen, der Rot, Grün, Blau und Pink verschmort und Schwarz im Türkisstreif zum Leuchten bringt. Vorläufig diskutiert man noch über allerhand Optionen. Reicht bereits ein amikales Bier mit einem New born Statesman als Apéro vor einem rot-blauen Hamburger? Oder verlässt man sich auf die Tonnen von Kreide, wie sie die burgenländischen Freiheitlichen gefressen haben, um ihre Ankunft im Postvölkischen zu simulieren und, Elfriede Jelinek hin oder her, Rechnitz 45 vergessen zu lassen?

Seit sich Citizen Like, ahnungslos am Nasenring geführt von den organisierten Spionen in Face-book, durch die Welt wählt, hinterlässt er eine Spur, wilder als die Wilde Maus des Wiener Praters. Wo sich die neuen Mehrheiten hinbewegen, schießen die Bühnen der Terribles Simplificateurs aus dem Boden.

Ein Korrespondent der NZZ vermutete neulich: "Österreich mag aufgrund seiner monarchischen Tradition eher dazu neigen, auf Heilsbringer zu vertrauen." Den letzten monarchischen Heilsbringer wird man lange suchen müssen. Etwas weniger lang den "starken Führer, der sich nicht um Parlament und Wahlen kümmert", wie ihn die Universität Wien bei 55 Prozent unserer Landsleute als Wunschbild entdeckt hat. Woraus sich ergibt, dass sie mit ihren Likes bald einmal am Ende und mit einer kräftigen Dosis Orbánismus stillgelegt wären. Vor laufenden Kameras haben die beiden Retrovisionäre des "vollen Bootes" ganz ungeniert erkennen lassen, wie wenig einer österreichisch-ungarischen Dystopie im Wege stünde, falls wir ihnen am 15. Oktober "das Vertrauen schenken". (Norbert Loacker, 13.10.2017)