Daniel Kehlmann ist als Erzähler immer auch Illusionskünstler, hinter dessen Stil sich stets eine gewisse Hinterlist versteckt.

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Wien – In den Dörfern lauern Hunger und Krankheit, im Wald die Wölfe und wer weiß, was sonst noch. Religiöse Fanatiker ziehen durchs Land auf der Jagd nach Hexen. Dann löst ein eigentlich harmloser Idiot in Prag einen Krieg aus, der dreißig Jahre dauern und Heere wie Naturkatastrophen über das Land ziehen lassen wird, und bis zum Schluss ist nicht ganz klar, ob das eigentlich seine Idee war oder die seiner Frau. Über die Auswüchse dieses Konflikts, der eigentlich als Streit um den rechten Glauben begonnen hat, staunen bald auch die, die ihn austragen: "Macht, was ihr wollt, hat der General gesagt. Man schafft das nicht gleich, weißt du, muss sich erst dran gewöhnen, dass man das wirklich darf. Dass das geht. Mit Menschen machen, was man will."

Daniel Kehlmann erzählt vom Dreißigjährigen Krieg, dieser "europäischen Katastrophe", als einer Epoche von pittoresker Scheußlichkeit, als einem diskontinuierlichen, absurden Albtraum. Die abergläubischen Ängste eines unaufgeklärten Jahrhunderts sind dem routinierten magischen Realisten Kehlmann dabei ein gefundenes Fressen: Neben dem menschengemachten Grauen treiben hier Geister ihr ganz selbstverständliches Unwesen, im Wald haust das "Kleine Volk" und auf ihrer Lichtung die "Kalte".

Realismus und Fiktion

Ohne weiteres passt hier das Übernatürliche zum historischen Detailrealismus, und der wiederum zur Fiktion: Ungefähr als der Krieg über die Grenzen Böhmens schwappt, verliert anderswo ein Müllerssohn im Wald vor Angst den Verstand. Als man ihn findet, ist der Esel, den er bei sich hatte, tot, und der Bub schwebt, wie es scheint, hoch oben zwischen den Bäumen, nackt, aber mit Mehl bedeckt. Der "große Teufel" sei es gewesen, sagt er. Am Kopf trägt er die Ohren des Esels, eine schaurige Vorwegnahme seiner Narrenkappe. Das ist Kehlmanns Version des Till Eulenspiegel: Aus dem volkstümlichen Schwank nimmt er ihn und setzt ihn mitten in den deutschen Krieg.

Durch ein ausgeblutetes Europa, über die Schlachtfelder und durch die Hinterzimmer der Diplomatie treibt Kehlmann ein teils historisches Ensemble. Ihnen allen läuft dieser Tyll über den Weg: dem unglücklichen Friedrich V., der als "Winterkönig" in die Geschichte und davor in die Spottlieder der Vaganten eingeht, seiner Frau Elisabeth Stuart im Exil, dem Dichter Paul Fleming, dem Gelehrten Athanasius Kircher.

Im Lauf seiner literarischen Karriere war Eulenspiegel schon ganz Verschiedenes: Sozialrevolutionär, weiser Narr, kindergerechter Scherzbold. Zum Setting dieses Romans allerdings passt keine dieser humanistischen Unterstellungen: Kehlmanns Tyll ist eine Spukgestalt, eine getriebene Figur, frei von hehren Absichten, Zaungast und nicht selten Quelle des Schreckens. Die Historien von Tylls literarischem Vorbild geraten hier zu mörderischen Spektakeln. Einerseits mit einer (angemessen drastischen) Biografie ausgestattet, macht Kehlmann ihn andererseits zur emblematischen Figur des Krieges, zur Heimsuchung seiner Epoche.

Das Wunder guten Essens

Der Düsternis seines Erzähluniversums stellt Kehlmann zum einen eine nicht geringe Komik entgegen. Tyll ist ein witziger Roman. Das Weltgeschehen hat hier stets den Hauch des Läppischen, jede historische Gestalt ist immer auch ein banaler Wicht. Dazu kommen Momente von schwer fassbarer Helligkeit und Klarheit, die den Gang der Erzählung immer wieder unvermutet durchstoßen: Da sitzt einer bei seinem Henkersmal und ist ganz aus dem Häuschen darüber, dass es auf der Welt wirklich so gutes Essen gibt (Brot, Hammelkeule, Kirschkuchen!); und er bemerkt verwundert, dass er wohl sein Leben lang hungrig war, ohne es zu merken. Da steht ein ominöser Nachfahre Oswald von Wolkensteins am Rand der Schlacht von Zusmarshausen und erkennt für sich und nicht ohne Trotz, wie schön der Krieg aus der Ferne sein kann.

Mit Tyll hat Kehlmann einen zweiten historischen Roman geschrieben, der vielleicht noch mehr als sein Welterfolg Die Vermessung der Welt (2005) gerade von der Unmöglichkeit historischen Erzählens handelt: Die Schreibenden und Chronisten, die diesen Roman auch bevölkern, werden von Vergesslichkeit, Verlogenheit oder schlicht der Überforderung der sprachlichen Möglichkeiten eingeholt. Einer von ihnen stellt schon im Moment des Erlebens fest, "dass das alles in seinem Buch einst anders berichtet werden müsste. Keine Beschreibung würde ihm gelingen, denn alles würde sich entziehen, und die Sätze, die er formen konnte, würden nicht zu den Bildern in seinem Gedächtnis passen."

Also erzählt er fortan, wenn man ihn nach seinen Abenteuern fragt, was er bei Grimmelshausen gelesen hat. Überhaupt ist in diesem Kriegsroman ständig von Literatur die Rede: Verhandelt wird dabei nichts weniger als das Erstarken des Deutschen als Literatursprache. Aber obwohl wir Fleming bei der Arbeit beobachten und über Opitz lachen dürfen, ist wohl Kehlmann selbst mehr noch dem anderen Metier zuzurechnen, von dem hier die Rede ist, dem der Schausteller.

Als Erzähler war Kehlmann von Anfang an Illusionskünstler, hinter seinem unauffälligen, makellosen Stil versteckt sich stets eine gewisse Hinterlist (auch dieser Tyll droht einem zwischen den Fingern zu zerrinnen). Einmal kurz weggesehen, können sich Kehlmanns aus vermeintlich handfesten Dingen und Worten gebaute Szenen in nichts auflösen. Auch seine Figuren plagen sich mit dieser Unzuverlässigkeit der Wirklichkeit – und sind dabei selbst bloß menschenähnlich, mit gerade genug Leben hinter ihren Puppenaugen, um latente Ironie und stilles Grausen zu erzeugen.

Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass ein Roman über ein zerstörtes Europa gerade jetzt erscheint, tagespolitische Anknüpfungspunkte gibt es genug. Zugleich aber besteht Tyll auf höchster Artifizialität: Wirklichkeit ist literarisch nicht zu haben – und wäre ohnehin ein bescheidenes Ziel, gemessen an den Möglichkeiten. Kehlmanns meisterhafter Roman ist dafür gleich der Beweis. (Bernhard Oberreither, 13.10.2017)