Nicht alle wissen, dass sie nicht mehr leben: Stummfilmdreh des Nature Theater of Oklahoma zu Elfriede Jelineks "Die Kinder der Toten" in Kapellen nahe Mürzzuschlag.

Foto: Ditz Fejer

Eindrücke vom Dreh... (Videos: Anne Katrin Feßler)

Foto: anne katrin feßler
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Kapellen/Mürzzuschlag – Ein Auto ist mit dazugehörigem, filmtauglichem Feuerball unlängst auf einer Wiese in der Obersteiermark explodiert. Die Feuerwehr rückte aus, der Notarztwagen eilte herbei. Wie so oft gab es Tote zu beklagen. Zum Glück nur Filmtote, dafür aber jede Menge. Am Samstag rannten sie, die gewaltsam in den Tod Gerissenen, dann auf wackeligen Beinen und mit blutunterlaufenen Augen noch einmal um ihr "Leben", aus dem rauchenden Gasthaus Brunner in Kapellen stürzend. Zu ihnen gesellt haben sich viele andere Genossinnen und Genossen aus dem österreichischen Totenreich, Holocaustopfer und Habsburger, Skirennläufer und Selbstmörder.

DER STANDARD

Elfriede Jelinek hat sie in ihrem zentralen Werk, Die Kinder der Toten (1995), heraufgeschrieben aus der Untiefe der Erde. Der Roman ist in der Obersteiermark angesiedelt. Das Nature Theater of Oklahoma (New York) arbeitet im Auftrag des Steirischen Herbstes seit zwei Jahren an einer höchst ungewöhnlichen Literaturverfilmung des 666 Seiten umfassenden Buches; zugleich eines der größten Projekte in der Festivalgeschichte. Seit einem Monat dreht das Regieduo Pavol Liska und Kelly Copper in Kapellen und Mürzzuschlag, mit Laiendarstellern und auch sonst im intensiven Austausch mit der Bevölkerung.

Zuschauen ist dabei das große Ding, Mitspielen jederzeit vorgesehen. Schminkstation und Kostümfundus offenbaren alles, was Freunden des Splattergenres gefällt: Kopfschusswunden, vermodernde Gesichter, verfaulte Gebisse, Trachtenkleidung, Uniformen, Sportoutfits mit allen farbenprächtigen Accessoires.

Zombie-Parade

Den Abschluss bildete am Samstagabend die große Zombie-Parade, bei der die letzten Super-8-Filmkassetten (!) aufgebraucht wurden. Der von Ulrich Seidl koproduzierte Film soll, so Claus Philipp, scheidender Stadtkinochef und hier als Dramaturg tätig, 2018 in die Kinos kommen. Für die Parade gebot der Ort Kapellen noch einmal alles auf, von Oldtimerfahrzeugen bis zur Musikkapelle.

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Hinter der sensationellen Oberfläche dieses trashigen "Großen Drehs", der von einer ausgeprägten Spiellust der Bevölkerung zehren konnte, steckt aber noch mehr. Etwas, das sich nicht leicht greifen lässt, das aber in der mehrwöchigen Auseinandersetzung der Bevölkerung mit dem Text bzw. mit den daraus abgeleiteten Filmszenen in Bewegung kam. Im Sinne einer sozialen Plastik, wie sie Beuys in den Kunstdiskurs eingeführt hat, haben Bürger vor Ort sich selbst auf Konfrontationskurs mit dem Jelinek-Text begeben, sind auch zu jeder Tages- und Nachtzeit bereit gestanden, um die 144-stündige Dauerlesung Die Kinder der Toten mit am Laufen zu halten. Ein wichtiges Tool, denn schließlich kommt Jelineks Text im Film nicht mehr vor.

Liska und Copper haben ihn als Stummfilm konzipiert, nicht nur, weil auch der Roman keine Dialoge enthält oder weil es bis heute keine amerikanische Übersetzung gibt (!), von der die beiden englischsprachigen Theatermacher hätten ausgehen können, sondern auch weil es zulässig und oft nicht das Schlechteste ist, eine solche Radikalübertragung vorzunehmen. Schon Christoph Schlingensief verzichtete bei Jelineks Stück Bambiland am Burgtheater (2003) de facto auf die Übernahme des Textes.

Sprache trifft auf Landstrich

Mitunter lassen sich so auch Jelineks Gespinste weiterziehen. Ganz zupackend wirkt etwa eine Szene – sie war Teil einer 15-minütigen "Uncut"-Fassung, die es bereits zu sehen gab –, in der Flüchtlinge aus dem Supermarkt auf die Dorfstraße treten, ebenfalls als von Kopftuch und langen Mänteln nur wenig kaschierte Untote, denen "wir" hinterherstarren, als "unseren Toten", die plötzlich leibhaftig vor uns stehen.

Im ebenfalls zum Programm zählenden Film Die Steiermark hasse ich am allerwenigsten (ein Gespräch mit Intendantin Veronika Kaup-Hasler und Claus Philipp) wurde die sich vor Jahren aus der Öffentlichkeit zurückgezogen habende Schriftstellerin, nun mit feuerrotem Haar, zur Wiedergängerin ihrer selbst: "Ich hack‘ dann immer los", sagt sie da über ihre Schreibweise, die nicht zur Differenzierung taugen will. (Margarete Affenzeller, 16.10.2017)