Annie Clark alias St. Vincent hat ein neues Album veröffentlicht. Es heißt "Masseduction".

Nedda Afsari

Wien – Beim Albumcover kennt mann sich wieder einmal nicht aus. Ist es sexy oder sexistisch? Man sieht eine schlanke Dame von hinten, die sich in einem engen Body nach vorne beugt, aber hallo. Ob solcher Darstellungen werden sonst Kampfschriften verfasst oder Taschentücher umgewidmet. Schlicht an Musik interessierte Menschen fragen sich, was diese Bella Vista mit der Musik zu tun haben soll.

Hauptsache St. Vincent ist zufrieden. So heißt die dafür verantwortliche Musikerin. Sie hat das Cover gestaltet, und sie zieht Mehrdeutigkeiten dem Eindeutigen vor. Die Gunst der Kunst.

Das Cover von "Masseduction".

St. Vincent ist der Nom de guerre von Annie Clark. Die ist 35, wuchs in Dallas, Texas, auf und hat eben ihr fünftes Album veröffentlicht. Es heißt "Masseduction" und ist ihr bestes bisher. Aufgefallen war sie erstmals im Chor der verstrahlten Band The Polyphonic Spree. Ein Gesangsverein, der sich pseudosektenhaft inszenierte, während er mit zum Himmel erhobenen Händen vielstimmig das Leben besang. Schön war das.

Duett mit Talking Head

Seit 2007 veröffentlicht Clark als St. Vincent. In der Zeit wuchs sie vom Alternative-Music-Girl Stück um Stück zum Popstar. Wobei sie keine hirntote Tanzbarbie ist, sondern Pop zu ihren Bedingungen macht. Das sagen zwar alle, aber in ihrem Fall bedeutete dass schon einmal, ein Album mit David Byrne von den Talking Heads aufzunehmen. Byrne nennt sie einen Geistesverwandten. Das kann kokett und anmaßend sein, aber Pop darf das sein, muss das sein. Immerhin ist es Pop mit Hirn, wobei Masseduction das erste Album ist, bei dem das Hirn sich nicht als verkopfte Hürde vor der Musik aufbaut, nein.

"Masseduction" ist nicht nur theoretisch gut, es ist tatsächlich gut hörbar. Mitverantwortlich dafür ist Jack Antonoff, der Produzent von Taylor Swift. Er verordnete der Musik von St. Vincent eine breitere Gefälligkeit, ohne ihr die Ecken und Kanten zu nehmen.

"Pills" – zweiter Song des Albums "Masseduction" von St. Vincent.
St. Vincent

St. Vincent spielt, so grob darf man das sagen, elektronischen Pop. In Songs wie "Fear The Future" kracht gar eine E-Gitarre schweinisch rein, denn in ihrer Jugend waren Nirvana überlebenswichtig. Mit den noch atmenden Mitgliedern der Band hat sie sogar schon einmal live gespielt, der Gedanke daran erhöht ihr heute noch den Puls. Dazu kommt der Synthiepop der 1980er.

Das beschert Masseduction spätesten nach drei Songs den ersten Hit: "Sugarboy" ist ein vom Synthie getriebener Uptempo-Song, der Jimmy Somerville (von Bronski Beat) und Marc Almond nostalgisch aufs Gemüt schlagen dürfte. Produzent Jack Antonoff hat ja schon einmal mit Vince Clarke (Depeche Mode, Yazoo, Erasure ...) gearbeitet, vielleicht rührt das daher, aber wurscht, der Song fährt wie ein Zug.

Lass es zu, wird schon

Verzettelte sich St. Vincent bisher gern in ihren Ideen, zieht sie jetzt die Grundthese jedes Liedes bis zum Ende durch. Klar betreibt sie dabei Selbstirritation, bürstet gegen den Strich, aber nur im erträglichen Rahmen. Diese Irritationen befördern St. Vincents Zweifel. Sie ist keine Behauptungskünstlerin, die vorgibt, Antworten zu haben. Wie jeder intelligente Mensch hadert sie mit den Umständen. Dementsprechend geht es um die Liebe, und warum immer alles kompliziert ist – wir erinnern uns an das schwierige Artwork des Albumcovers.

St. Vincent besingt "New York" leise, "Los Ageless" laut und kritisch. Das "Ageless" bezieht sich auf den Körperkult drüben im Westen. "Slow Disco" streichelt mit Streichern ihre Wunden, und am Ende steht die Einsicht, dass alle Kontrollversuche über das Leben nichts nützen. Das Leben hat ein Eigenleben. "Let it happen, it's not the end", singt sie in "Smoking Section"

St. Vincent

Hier schließt sich ein Kreis. Wir tun, was wir tun müssen. Lass es zu, es wird schon. Im Opener heißt es dazu: "I can't turn off what turns me on". Dieselbe Einsicht, nur anders. (Karl Fluch, 17.10.2017)