Durs Grünbein lebt abwechselnd in Berlin und in Rom.


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Wien – Kaum ein Lidschlag trennt uns von der römischen Antike. Es ist noch immer derselbe durchdringend blaue Himmel, der über Rom sein "Auge aufreißt", das "uns nicht sieht", aber überallhin verfolgt: mit "Wettergefühlen". Doch den Flaneur, der die Stadt am Tiber durchquert, erfasst ein Taumel, der keiner bloß atmosphärischen Luftveränderung geschuldet ist.

Rom, diese tausendfach mit Geschichte überlagerte Stadt, bildet das Glut- und Speicherzentrum in Durs Grünbeins neuem, hervorragendem Gedichtband Zündkerzen. Grünbein ist der legitime Spross der sächsischen "Dichterschule". Deren Vertretern gelang es bereits zu Zeiten der DDR spielend, die Vorgaben der sozialistischen Literaturbürokratie mit Formbewusstsein auszuhebeln.

Grünbeins antikisierender Ton klingt heute gesamtdeutsch. Seine Lyrik kennt den sicher gesetzten Effekt, die Wirkung von verlustanzeigenden Wörtern. "Wir leben in geheimnislosen Städten", hebt so ein Gedicht an. Zu dieser traurigen Einsicht soll dem Ernüchterten ausgerechnet die "Nachtigall im Park am Morgen" verholfen haben. Das Los der Vereinzelung weiß der Stadtläufer ungerührt zu tragen: "Es war nicht schwer, hier einsam zu sein / Wie die Krabbenfischer in ihren Booten / Vor den Lofoten." Selbst Doktor Benn, der die Anrufung fremder Weltgegenden durch exotische Wörter liebte, wäre von der Nonchalance einer solchen Reimkonstruktion hellauf begeistert gewesen.

Häufig genug konnte einem früher Grünbeins Altklugheit den Genuss an seiner Poesie trüben. Mit uns Zeitgenossen verkehrte er bevorzugt im Medium des Altertums. Für die unvermeidlichen Verluste der Moderne wurde sicherheitshalber der Wechsel der Erdzeitalter verantwortlich gemacht.

Noch jetzt, im 56. Lebensjahr, sieht (und hört) der Dichter "die weißen Verben" am Werk, Tätigkeitswörter wie "verschwinden, verlöschen, verenden", die mit Geisterhand ausstreichen, was jemals existierte. Sie "operieren verdeckt" und rücken "still im Schutz der Hauptwörter vor". Das verdeckte Operieren nimmt nur jemand wahr, der die Schliche der Staatssicherheit noch selbst kennengelernt hat.

Grünbein weiß, dass die (römischen) Felder und Brachen keine Zustände abbilden, sondern das Produkt unermüdlicher Arbeit sind. "Blinde Zerstörung" trifft den angesprochenen Sachverhalt kaum. "Die weißen Verben" gibt es, sinniert Grünbein, "wie es die Liebe gibt." Sie "zielen auf Horizonte, die nichts erreicht." "Er war ein Dichter der Übergänge", weiß dieser Gedankensänger über sich selbst auszusagen. Und so beharrt Grünbein mit grimmigem, gelegentlich komischem Trotz auf die "profane Helligkeit" des Gedichts, in dem so anschaulich wie möglich "gegen die Verkürzung der Träume" gearbeitet wird.

Wie Treppenstürze führen die freien Verse in die schwer zugänglichen Räume von Zeichensetzung und Sinngebung. Als Scheherezade kehrt der Sänger aus dem Armenviertel Suburra wieder. Er hat Glück, dass der Kalif im Traum ein mildes Urteil über ihn spricht: "Dich schonen wir. Bleib, wo der Pfeffer wächst." (Ronald Pohl, 18.10.2017)