Die Rückeroberung des vom "Islamischen Staat" (IS) gehaltenen Territoriums im Nahen Osten neigt sich dem Ende zu – und Kräfte, die den IS noch vor kurzem gemeinsam bekämpft haben, wenden sich nun gegeneinander. Mehrere solche Konflikte sind im Irak und in Syrien denkbar (oder laufen bereits, etwa zwischen Rebellengruppen in Syrien). Mit welcher Vehemenz die Zentralregierung in Bagdad drei Wochen nach deren Unabhängigkeitsreferendum gegen die irakischen Kurden vorgeht, überrascht jedoch. Mit Haidar al-Abadi meinte man einen irakischen Regierungschef zu haben, der einen neuen bewaffneten Konflikt auf alle Fälle vermeiden will.

Regierungsgebäude und Militärstützpunkte in Kirkuk werden bereits wieder von irakischen Truppen kontrolliert, die dabei sind, sich mithilfe von Iran-nahen schiitischen Milizen auch andere zwischen Kurden und Arabern "umstrittene Gebiete" wieder zurückzuholen. Dazu gehören jene Ölfelder, in die die Kurden 2014 vorrückten, als die irakische Armee vor dem IS floh. Ohne sie kann ein unabhängiger kurdischer Staat wirtschaftlich nicht funktionieren. Und Bagdad scheint nicht nur den Status quo von 2014 wiederherstellen zu wollen – ein kurdisch-arabisches Miteinander, etwa bei der Verwaltung von Kirkuk -, sondern die volle Kontrolle anzustreben.

Das Unabhängigkeitsreferendum erweist sich als eine kapitale Fehlkalkulation des Kurden-Präsidenten Massud Barzani. Er hat versäumt, seinen dramatischen Schritt bei seinen internationalen Partnern abzusichern: US-Präsident Donald Trump hat bereits wissen lassen, dass er keine Partei ergreifen wird. In diesem neuen Konflikt, der sich zum Krieg auswachsen könnte, stehen sich Parteien gegenüber, die beide von der internationalen Gemeinschaft im Kampf gegen den IS unterstützt – und von Washington und anderen bewaffnet – wurden.

Angesichts seiner eigenen Geschichte fast noch schlimmer muss für Barzani jedoch sein, dass es ihm mit seinem Unabhängigkeitsversprechen nicht einmal gelungen ist, die irakischen Kurden zu einen: Er scheiterte nicht nur an den Fundamentaloppositionellen der Gorran-Partei, sondern konnte nicht einmal die Patriotische Union Kurdistans (PUK) seines kurz nach dem Referendum verstorbenen Mitstreiters und Rivalen Jalal Talabani ganz von diesem dramatischen Schritt Richtung Sezession überzeugen. Kirkuk konnte von den irakischen Truppen auch deshalb so schnell übernommen werden, weil sich die zur PUK gehörenden Peschmerga zurückzogen.

Das große Ziel Unabhängigkeit und die Attacke von außen reichten nicht aus, die innerkurdischen Differenzen zu beseitigen. Dafür steigt das innerirakische Ansehen der schiitischen Milizen, die sich als Bewahrer der nationalen Einheit des Irak – mit iranischer Hilfe – gerieren können. Die Kurden sind die Verlierer, und die radikalen schiitischen Kräfte, die bei den Wahlen nächstes Jahr Premier Abadi verdrängen könnten, die Gewinner. Armer Irak. (Gudrun Harrer, 17.10.2017)