Rainer Werner Fassbinder ist immer noch ein zentraler Bezugspunkt für das deutsche Kino. Aber selten hat sich ein jüngerer Filmemacher diesem Erbe so intelligent und spielerisch genähert wie Nicolas Wackerbarth in Casting. Einige großartige deutsche Schauspielerinnen – Judith Engel, Corinna Kirchhoff, Ursina Lardi – sollen für ein Remake von Die bitteren Tränen der Petra von Kant vorspielen. Für das Casting gibt es auch einen Anspielpartner, eine "Anspielwurst". Diesen Gerwin spielt der österreichische Schauspieler Andreas Lust – eine große Rolle in einem der besten deutschen Filme seit langem.

Die Schauspielerinnen kommen und gehen, er bleibt als Anspielpartner am Set und in der Maske: ein bestechender Andreas Lust in Nicolas Wackerbarths "Casting".
Foto: Viennale

STANDARD: Wie kamen Sie an die Rolle des Gerwin?

Lust: Es gab ein Casting zu Casting. Wir haben uns in einem Probenraum getroffen und immer wieder einen halben Tag lang Szenen improvisiert. Nicolas Wackerbarth hat irgendetwas erfunden, was so am Rande mit dem Film zu tun hatte, und dann haben wir drauflosgespielt. Es war ein sehr großer Spaß, eigentlich das lustigste Casting, das ich bisher gemacht habe. Manchmal waren auch Partner dabei, und wir haben Beziehungsgeschichten improvisiert. Da ging es vor allem um einen Erzählstrang. Gerwin hatte ja eine Beziehung. Einen Freund, mit dem er gemeinsam ein Lokal aufmachen wollte. Da kam dann aber eine große Krise, die Beziehung geht in die Brüche, der Ex bringt irgendwann die ganzen Sachen vorbei, und ich ziehe in dieses Studio ein und wohne in der Garderobe. Das ist jetzt alles im Film nicht mehr drin.

STANDARD: Das bedeutet, dass Gerwin immer schon schwul war. Im Film könnte man ja auch den Eindruck kriegen, dass er durch das Casting für den Fassbinder-Stoff allmählich immer "queerer" wird. Hat Nicolas Wackerbarth jemals gesagt, warum er mit Ihnen arbeiten wollte?

Lust: Nein, das weiß ich nicht, darüber haben wir so explizit nicht gesprochen. Er hat später einmal gesagt, er hat mich genommen, weil ich alles ernst nehme. Rückblickend habe ich aber schon den Eindruck, dass der Nicolas genau gesehen hat, wie er jemanden einsetzt. Die Leute haben sich selbst mitgebracht. Vor allem die Frauen, die zum Casting kamen. Da vermittelte sich das Gefühl, dass er eine Grundspannung von jedem Einzelnen verwendet hat.

STANDARD: Wie stehen Sie persönlich zu Fassbinder, der in "Casting" als ein bestimmtes Modell für das deutsche Kino ernst genommen, aber auch relativiert wird?

Lust: Also, ich muss ganz ehrlich sagen, ich weiß nicht wahnsinnig viel über Fassbinder. Ich habe vielleicht zwei Filme von ihm gesehen. Die bitteren Tränen der Petra von Kant habe ich natürlich noch einmal angeschaut. Ich finde das äußerst spannend. Das ist ästhetisch irrsinnig wertvoll. Aber ich bin sicher zwei, dreimal eingeschlafen, jedes Mal, wenn ich einen Fassbinder-Film gesehen habe. Ich schau dem gerne zu, aber ich schlaf dabei ein.

STANDARD: Was macht so schläfrig?

Lust: Es ist alles so auf den Punkt zugeschnitzt. Die sprechen ja wirklich das Essenzielle. Das hat eine Trägheit, etwas Ausgestelltes. Ich bin aber jemand, der für den gesunden Theaterschlaf ist. Im Theater oder im Kino zu schlafen und weiterzuassoziieren und so den eigenen Film laufenzulassen, das find ich eigentlich gut. Da geniere ich mich nicht dafür.

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STANDARD: Hat Nicolas Wackerbarth auch Eigenschaften wie Fassbinder, der ja ein berüchtigter Regisseur war?

Lust: Nicolas ist Fassbinder ohne Drogen. Er verlangt auch sehr viel von den Leuten. Wir waren ja 24 Stunden auf Bestellung parat. Er hat mich auch an den freien Tagen angerufen und mir neue Dinge erzählt: Du, mir ist etwas eingefallen, kannst du dich darauf vorbereiten? Es war sehr anstrengend. Aber er schmeißt sich selbst genauso rein, und er ist – da kenne ich ganz andere Regisseure! – keiner, der die Menschen zerfleischt. Ich würde den Nicolas mit Peter Zadek vergleichen, weil der die Leute mit Überblick für etwas eingesetzt hat, was die selbst nicht wussten.

STANDARD: Wie weit ging das Prinzip der Improvisation?

Lust: Es ist komplett improvisiert. Wir wussten gar nichts. Weil es nominell ein Fernsehfilm ist, gab es ein Treatment. Das braucht man, um ein Budget zu erstellen. Für uns gab es nichts. Es war ein Kammerspiel, wir haben uns jeden Tag in diesem Studio getroffen, jedem Einzelnen wurde gesagt, worum es heute geht, und dann sind wir aufeinander losgelassen worden. Das lief dann eine halbe Stunde durch, bis der Kameramann gesagt hat, er könne die Kamera nicht mehr halten. Dann wurde jeder zu einem Einzelgespräch geholt, und dann wurden wir wieder aufeinander losgelassen. Bei normalen Drehs weiß man ungefähr, wann man sich ein wenig rausnehmen kann. Bei Casting waren wir immer halbstundenweise auf 120. Und im nächsten Moment ist alles wieder ganz anders. Jeder spielte ein wenig in dem Glauben, dass die eigene Rolle die Hauptrolle war.

STANDARD: Macht so ein Arbeiten Spaß, oder freut man sich nur am Ende über das Ergebnis?

Lust: Mir hat die Arbeit Spaß gemacht, und es ist auch eine Freundschaft mit Nicolas entstanden. Aber es war hart. Es war lustig mit dem Nicolas – wenn das jemand anderer gewesen wäre, wäre das so wohl nicht gegangen. Nicolas hat mich übrigens bis zum vorletzten Tag in dem Glauben gelassen, dass ich die Rolle der Petra bekommen sollte – also eine sehr schräge Wendung! Eine große Leistung ist auch der Schnitt, denn es existiert ja riesig viel Material. Im Grunde haben wir ja fünf Filme gedreht. (Bert Rebhandl, 19.10.2017)