Jede Lösung, die auf Migrationssteuerung setzt, führe letztlich nicht an gewissen Mauern vorbei, sagt Merkels Afrikabeauftragter Nooke.

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Kanzlerin Merkel bei ihrem Besuch in Äthiopien mit Premierminister Hailemariam Desalegn im Oktober vor einem Jahr.

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STANDARD: Sie sind seit April 2010 Afrikabeauftragter der deutschen Kanzlerin. Welche Lehre haben Sie bisher gezogen?

Nooke: Dass wir die Vielfältigkeit unseres Nachbarkontinents im Süden unterschätzen. Wie anders afrikanische Gesellschaften funktionieren und wie schwierig es ist, einen Wirtschaftsaufschwung in Afrika voranzubringen. Ich bin skeptischer geworden, was die eine große Lösung angeht.

STANDARD: Was hat die Skepsis vergrößert?

Nooke: Was Menschenrechtsschutz, demokratische Beteiligung, Administration, Staatsführung angeht, hat es in den vergangenen 15 Jahren schon auch Fortschritte gegeben an einigen Stellen. Aber wir haben ein riesiges Defizit in Sachen Regierungshandeln. Das hat verschiedene Gründe, zum Teil liegt es auch an der Heterogenität der Gesellschaften, die es oft nicht einfach macht, von der Hauptstadt aus ein Gebiet zu regieren. Oft fehlt aber auch einfach der politische Wille. Es gibt viele Machterhaltinteressen und leider in mehreren Ländern auch eine Verschlechterung der Menschenrechtslage.

STANDARD: Sie plädieren für einen robusteren Umgang mit afrikanischen Regierungen. Wer sie ernst nehme, müssen mit ihnen genauso reden wie mit den USA oder China.

Nooke: Europa muss einen Ton finden, der nicht paternalistisch ist. Aber seinen Partner ernst nehmen bedeutet auch, dass beide Seiten klar aussprechen, was geht und was nicht. Von den afrikanischen Regierungen können wir nicht verlangen, dass sie alle Migranten in Europa wieder zurücknehmen. Wir in Europa können wiederum nicht akzeptieren, dass illegal Eingereiste hierbleiben und versorgt werden. Aus Afrika kommen nicht vorwiegend Flüchtlinge, die sind zu arm, schaffen es meist nur in die Nachbarländer. Zu uns kommen meist Menschen, die auf der Suche nach einem besseren Leben Geld zusammensammeln. Das kann man ihnen auch nicht verübeln.

STANDARD: Auch Europa muss seine eigene Migrations- und Asylpolitik dringend neu angehen.

Nooke: Ja, und es hilft dabei nicht, wenn man die notwendigen Maßnahmen als "Festung Europa" diffamiert, bloß weil man sagt, es können nicht alle hier aufgenommen werden. Grenzsicherung alleine ist keine Lösung, aber ohne Grenzsicherung lässt sich Migration nicht steuern. Jede Lösung, die auf Migrationssteuerung setzt, wird auch, um beim Bild zu bleiben, gewisse Mauern brauchen. Erst dann kann man über die Zugbrücken reden, über die man geht.

STANDARD: Österreichs präsumtiver zukünftiger Kanzler Sebastian Kurz hat Wahlkampf gemacht mit der Ankündigung, die Mittelmeerroute schließen zu wollen. Es ist kein Geheimnis, dass Angela Merkel und ihr Parteifreund eine eher schwierige Beziehung pflegen. Wie bewerten Sie Kurz' Ankündigung?

Nooke: Mit der einen Lösung – Mittelmeerroute schließen, und dann ist es erledigt – kommen wir nicht weit genug. Eine EU-Afrikapolitik muss sich auch um Wachstum und Perspektiven auf dem Kontinent kümmern. Wir unterstützen Infrastrukturprogramme der Afrikanischen Union, die Integration der Märkte innerhalb Afrikas, Ausbildungsprogramme, damit in Afrika produziert wird und nicht unsere Waren aus Europa nach Afrika geliefert werden müssen.

STANDARD: Derzeit kommen nur deshalb weniger Menschen übers Mittelmeer, weil, so wird zumindest kolportiert, Italien über Umwege Libyens Milizen dafür entschädigt, das Ablegen der Boote zu verhindern.

Nooke: Die EU kann nicht dulden, dass andere in unserem Auftrag Menschenrechte verletzten. Dass wir mit Partnern der organisierten Kriminalität zusammenarbeiten, wird sich auf Dauer nicht lohnen, sondern ist gefährlich. Staatliche Strukturen in Libyen aufbauen und stützen, die selbst ihre Grenzen sichern, ist aber ein Weg.

STANDARD: Vor drei Jahren sah sich das Welternährungsprogramm der Uno (WFP) wegen Geldmangels gezwungen, die Essensrationen für syrische Flüchtlinge zu kürzen, was mit ein Grund für die sogenannten Flüchtlingskrise 2015 war. Kürzlich hat das WFP erneut angekündigt, die Nahrungsmittelrationen in Kenia um ein Drittel kürzen zu müssen. Haben europäische Politiker nicht dazugelernt?

Nooke: Natürlich ist das immer eine Ansage, die konkret an die Europäer geht. Ich meine aber auch, dass man gerade ein Land wie Kenia in die Verantwortung nehmen muss. Es ist ja nicht so, dass Kenia nicht auch selber Nahrungsmittel produziert oder besitzt. Die Afrikaner müssen lernen, dass die Probleme, die sie haben, nicht von außen gelöst werden können. Wir tragen alleine wegen der Kolonialzeit eine Menge Schuld und müssen Verantwortung zeigen. Dennoch müssen wir nicht jeden Fehler wie die teilweise unglaubliche Korruption auf der obersten Ebene in vielen Ländern hinnehmen oder verschweigen.

STANDARD: EU-Politiker sind sich weitgehend einig, dass mehr in den Herkunftsländern getan werden muss. Ideen dafür gibt es zuhauf. Wie aber stehen die Chancen, dass bei der nächsten EU-Afrika-Konferenz Ende November irgendetwas davon auch tatsächlich in die Realität umgesetzt wird?

Nooke: Ich möchte, dass bei der Konferenz beide Seiten die Neuaufstellung der EU-Afrika-Kooperation vereinbaren und den Auftrag für einen umfassenden EU-Afrika-Vertrag erteilen. Entweder wird der Gipfel im November wieder ein Treffen, wo sich die Staats- und Regierungschefs ein bisschen die Meinung sagen und allgemein über Afrika reden, oder es ist ein Einstieg in eine ambitionierte, konsistente EU-Afrika-Politik, die nicht von Partikularinteressen getrieben ist und mehr auf Substanz als auf PR setzt. Wir müssen mehr fordern und fördern.

STANDARD: Auf dem Afrikagipfel soll auch über den neuen EU-Migrationseindämmungsplan, den Deutschland, Italien, Spanien und Frankreich ausgearbeitet haben, beraten werden. Was kann man sich darunter vorstellen? Migrantenzentren in afrikanischen Ländern unter UN-Aufsicht?

Nooke: Das müssen wir jetzt eben aushandeln, das wird von Land zu Land verschieden aussehen. Man kann einerseits mit dem UN-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR) die Lager finanzieren oder mit der Internationale Organisation für Migration (IOM) versuchen, Migrationsströme umzukehren. Wir bauen bereits Beratungszentren in Afrika auf, einige stehen schon. Ich gehe sogar so weit zu sagen, dass wir nicht nur Flüchtlingslager finanzieren, sondern auch eine Stadt bauen sollten, wo einige Millionen Menschen Arbeit finden. Wir müssen die Botschaft senden: Gebt den Armen nicht Geld, sondern die Möglichkeit, Geld zu verdienen.

STANDARD: Wird die Zusammenarbeit nicht eher schwieriger, wenn viele afrikanische Länder lieber Geld aus China oder Russland nehmen, die sich um Menschenrechte und Demokratie weit weniger scheren als die Europäer?

Nooke: Ich gehöre nicht zu den Kritikern der chinesischen Aktivitäten in Afrika, da ist viel passiert, was ohne China nicht passiert wäre. Es bringt aber auch nicht so viel, nur auf die anderen zu schauen, sondern mehr, wenn wir eine europäische Afrikapolitik aus einem Guss haben. Wir müssen unsere bisherigen Strukturen und Verträge in ein neues Format bringen. Im Cotonou-Abkommen, das 2020 ausläuft und wieder auf 20 Jahre neu ausverhandelt wird, stecken 100 Milliarden Euro. Das ist eine Zahl, die versteht man in Afrika und in China. Dafür kann man sich auch etwas wünschen, um nicht zu sagen fordern.

STANDARD: Die EU alimentiert damit auch Herrscher, die ihr Volk unterdrücken. Merkels Afrikareise führte sie nach Äthiopien, Mali, Niger. Keine lupenreinen Demokratien, aber Hotspots der Migration.

Nooke: Dieses Dilemma werden wir nie vermeiden können. Europa ist gut beraten, eine einheitliche Politik für den ganzen Kontinent zu machen und die in der Agenda 2063 festgelegte Vision der Afrikaner zu unterstützen.

STANDARD: Ist das von Gerald Knaus angedachte Modell, das Anleihen an dem von ihm konzipierten Türkei-Flüchtlingsdeal der EU nimmt, ummünzbar auf Afrika?

Nooke: Dafür müssen nordafrikanische Staaten zusagen, Migranten zurückzunehmen. Was mit legaler Migration oder Aufnahme möglich ist, sollten wir machen, aber das wird nicht verhindern, dass weiter viele illegal nach Europa kommen wollen. Wir können unser Geld für Vereinbarungen einsetzen, damit die Regierungen ihre Leute wieder zurücknehmen.

STANDARD: Die fehlende Bereitschaft zur Rückführung wird meist mit der Androhung, Entwicklungshilfe zu kürzen, quittiert. Nun überweist aber die afrikanische Diaspora jährlich mehr Geld an ihre Familien als alle Weltentwicklungshilfe zusammengenommen.

Nooke: Das ist eine große Leistung der Diaspora, aber kein Argument, völkerrechtliche Verträge nicht einzuhalten. Rückführungen sind nichts Unmenschliches. Ich bin überzeugt, wir müssen von diesen Überweisungen der Diaspora mehr Geld in Investitionen umleiten, um Klein- und Kleinstunternehmen in ländlichen Gegenden anzuschieben. Es geht nicht nur um Geld der Diaspora, sondern auch um das lokale Wissen. Mit 5000 Euro kann man mehr machen als mit manchen Großprogrammen, bei denen vor allem internationale Konzerne, Banken und Entwicklungsagenturen eigene Mitarbeiter beschäftigen und wenig bei den Menschen vor Ort ankommt im Vergleich zu den Overheads der Europäer.

STANDARD: Sie haben die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen zwischen den beiden Kontinenten als "keine Erforlgsgeschichten" bezeichnet, und zwar "weder für Afrika noch für Europa". Die EU hat ja aber weitreichende Erfahrungen mit regionalen Freihandelsabkommen und Zollunionen, die sie mit der Afrikanischen Union teilen könnte. Sie haben gesagt, "hierfür muss sich die Generaldirektion Handel in Brüssel ändern". Wo hakt es konkret?

Nooke: Ich bezweifle, dass die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (EPA) im europäischen Interesse sind. Und die Afrikaner haben sich klar geäußert, dass diese ihrer Idee einer Freihandelszone für ganz Afrika eigentlich zuwiderlaufen. Wir haben schon beim letzten Gipfel im April 2014 zugesagt, die EPAs nur so lange weiterzuverfolgen, wie sie den afrikanischen Interessen bei der Schaffung einer einheitlichen Freihandelszone nicht entgegenstehen. Die EPAs haben den großen Vorteil, dass sie die regionale Integration innerhalb Afrikas fördern. Die Implementierung der EPAs ist meines Erachtens aber praktisch nicht möglich. Man kann nicht mit Grenzkontrollen zwischen Niger und Tschad sicherstellen, ob da die Möbel von Ikea oder von einem lokalen Tischler sind, wir wissen ja nicht mal, wie viele Flakgeschütz und Panzer da über die Grenze fahren, das ist alles absurd. Deshalb glaube ich, man sollte eher darüber nachdenken, ob nicht ein Wirtschaftsabkommen mit ganz Afrika besser ist. Das Handelsthema halte ich generell für überschätzt. Das ist ein ideologisches Thema, auf beiden Seiten, und beide haben zum Teil recht. Afrika braucht Produkte in Qualität und zu Preisen, die andere bezahlen wollen. Es hängt an der fehlenden Produktivität, nicht am Handel. (Anna Giulia Fink, 20.10.2017)