Franz Schuh im Café Hegelhof zum Interview mit Dreissinger: "In diesem Café, sagte ich damals, kann man höchstens einen Tee trinken – aber nur, wenn man sich Wasser und Teebeutel selber mitbringt."

Foto: Sepp Dreissinger

STANDARD: Ist ein Tag ohne Kaffeehaus für dich ein verlorener Tag?

Schuh: Die Erkenntnis, dass ich ins Kaffeehaus muss, ist mir wichtig. Ich habe nichts zu Hause, nichts zu essen, ich muss raus ... Die paar Jahre, bis das "Essen auf Rädern" zu mir kommt, muss ich irgendwo verbringen. Ich bin aber kein Freund der Romantisierung des Kaffeehauses. Walter Benjamin hat mit Recht darauf hingewiesen, dass die Moderne nicht das Kaffeehaus frequentiert. Modern ist das Espresso, eine Lokalität, die in den 1950er-Jahren begann, auch in Wien, den Kaffeehäusern Konkurrenz zu machen.

Dort sitzt man sprungbereit auf einem Hocker, nicht lange, denn der moderne Mensch hat es eilig. Das Wesentliche ist die Schnelligkeit im Espresso. Sie wird heute durch die idiotische Wendung "Coffee to go" parodiert. Darin spiegelt sich die Beschleunigung der Zeitläufte wider. Das Kaffeehaus enthält hingegen die Utopie vom Sitzenbleiben, vom Warten-auf-nichts. Das Kaffeehaus hat ein stagnierendes Zeitmodell.

Früher war das Kaffeehaus auch deshalb wichtig, weil viele ihre Wohnungen nicht heizen konnten. Es gab kein Geld und keine Kohle, deshalb war das Kaffeehaus notwendig, es war eine Antwort auf eine Not. Ich habe meine früheste Kindheit, von allem Anfang an bis zum Alter von zehn Jahren, in einer Gemeindewohnung verbracht. Dort gab es faktisch keine Heizung. In der Zwischenkriegszeit, behaupte ich, sind die Leute weniger ins Kaffeehaus, sondern ins Wirtshaus gegangen, ins geheizte Wirtshaus.

Das Kaffeehaus ist für die proletarischen Schichten erst viel später infrage gekommen, auch über bestimmte Leidenschaften wie Billard- oder Kartenspielen. Im Wirtshaus hat man zwar auch Karten gespielt, aber in meiner beschränkten Erfahrung war im Kaffeehaus diesbezüglich mehr los. (...) So, wie man das Kaffeehaus heute vorfindet, gehört es zu einem bestimmten Lebensstil. Um mit diesem Terminus herauszurücken, zum Beispiel zur Bohème, zur Bourgeoisie, zu den sogenannten Bobos. Sie werden in dieser Gesellschaft wohlfeil verachtet.

Den Bobos geht es nicht so gut, wie das Gerücht, also das Vorurteil und die Zeitung, es über sie verbreitet. Sie hängen heiter und traurig, also bipolar, in prekären Arbeitsverhältnissen. Die Bobo-Verachtung ist eine Journalistenblödheit, auch weil viele Journalisten selber zu den Bobos gehören und ununterbrochen im Kaffeehaus sitzen – aber dann schreiben sie über ihresgleichen, was für aufgeblasene, bedeutungslose Sittenverderber sie wären, die keine Ahnung vom "wahren" Leben hätten. (...)

STANDARD: Wovon hängt es ab, aus welchen Gesellschaftsschichten sich das Publikum im Kaffeehaus zusammensetzt?

Schuh: Für den Schichtenwechsel im Kaffeehaus ist mein Schulfreund Georg Danzer ein Zeuge. Er war wohnhaft am Gaudenzdorfer Gürtel, ich hinter der Stadthalle. Ich ging mit ihm ins Café Hawelka, ohne dort heimisch zu werden. Anders Danzer, er ist im Hawelka aufgeblüht. Am Gaudenzdorfer Gürtel rasen die Autos vorbei, die Mauern und die Fenster bieten keinen Schutz gegen den wahnwitzigen Straßenlärm. Für mich sind Georg Danzers Darstellungen in seiner Biografie sehr beeindruckend: Das Überschreiten des Gürtels in Richtung Innere Stadt und dann – das Kaffeehaus! (...)

Getroffen habe ich Georg Danzer in der Schule, im Gymnasium in der Diefenbachgasse. Sie liegt zwischen der Schweglerstraße und dem Gaudenzdorfer Gürtel. Der wesentliche Punkt ist: Das Hawelka war ein Lebensstil, eine Vision, Lifestyle, wie hanebüchen auch immer. Es war aber auch eine Frage der Perspektive. Ich war zum Beispiel einer, der am liebsten ins berühmte Café Sport ging.

Dort saß ich als Vierzehnjähriger mit meinem lächerlichen Taschengeld. Ich hatte denselben Heimweg wie der berühmte Dichter Hermann Schürrer. Später haben wir einander verabscheut, aber als Vierzehnjähriger habe ich ihn streckenweise auf dem Buckl in seine Unterkunft am Ulrichsplatz geschleppt. Er hat ordentlich getrunken, und ich war sportlich genug, um die Last zu tragen. Das Café Sport war, metaphorisch gesagt, so etwas wie ein Kaffeehaus für die Fremdenlegionäre der Stadt, ein wüstes Lokal mit Musikbox und einer verdrehten Auffassung von Freiheit. Es war wunderbar!

Auch das soll man nicht romantisieren. Soziologisch betrachtet, gab es dort die ersten Rauschgiftopfer und Alkoholiker meiner Generation. Wer das Café Sport überlebte, war entweder ein Egoist, der sich nichts anmerken ließ und hinter den Kulissen an seiner Gesundheit arbeitete, oder er hatte sehr starke Gene.

STANDARD: Wie bist du gerade auf das Café Sport gekommen?

Schuh: Es war eine Richtungsentscheidung, ob man ins Café Hawelka geht oder ins Café Sport. Es ist wie mit Büchern und Kritik. Von den wirklich guten Büchern erfährt man nicht durch Kritiken, sondern durch Gerüchte. Man hört es da und dort, und plötzlich liest man das Buch selbst. Man hört es da und man hört es dort, und plötzlich sitzt man im Café Sport. So muss man das sehen. Die Schulzeit in den 1960ern war nicht ohne. Das liegt daran, dass die Schule damals pathologisch autoritär war.

Die damaligen Subkulturen enthielten ein großes Versprechen – das haben sie eh nicht gehalten, keine Sorge! -, es war das Versprechen, dass es einen Ausweg aus diesem unerträglichen, kleinbürgerlichen Autoritarismus gibt. Was man als Vierzehnjähriger noch nicht weiß, ist, dass dieser "way out" auch einen "drive" und eine Abzweigung in den Untergang hat. Im Hawelka konnte man super maturieren, wenn man wollte. Im Café Sport konnte man frühzeitig untergehen.

STANDARD: Weißt du, wie das Lied von Georg Danzer "Jö schau!", in dem das Hawelka musikalisch verewigt wurde, entstand?

Schuh: Georg Danzer war in vielen Sachen, die er gemacht hat, ein "freundlicher Satiriker". Es gibt die schwarze Satire und die freundliche, die "rosa" Satire. Das Problem, auf das das Lied hinweist, ist eines, das ihn auf milde Weise immer befasst hat, nämlich: Wie geht man mit Außenseitern um? Damals war es Mode, nackt durch die Gegend zu laufen, es wurde nackt über den Fußballplatz geflitzt.

Im Grunde waren diese Flitzer harmlose Nachfahren der Aktionisten, die haben sich auch nackt ausgezogen und den Körper vorgezeigt. Aber wie sieht der Lebensstil der "anderen" wirklich aus? Wie sind die Leute in der Lage, mit dem Außenseitertum umzugehen? Und da waren die beiden Hawelkas, die Inhaber des Cafés – Gott hab sie selig -, sehr fragwürdig. Sie waren konservativ und ansatzweise fremdenfeindlich. Danzers Lied ist eine freundliche Satire darauf, wie unterschiedlich die Meinungen der Leute über Außenseiter sind. Der Außenseiter "polarisiert" unter allen Umständen. Das hat Danzer aus einer Zuneigung zu diesem Milieu wunderbar besungen.

STANDARD: Gibt es heute noch Cafés, in denen sich Künstler treffen, um gemeinsame Projekte zu besprechen?

Schuh: Ich glaube, dass es diese Art von Künstlercafé nicht mehr gibt, weil sich die meisten Künstler durch ihre Präsenz in den Massenmedien ohnedies verschleißen. Man muss heute nicht mehr in ein Kaffeehaus gehen, um Künstler zu erblicken. Man sieht sie durch den Kameramann und durch die Redaktionsfrau viel besser "aufbereitet". Die Notwendigkeit, am Nebentisch zu sitzen und zu spechteln, besteht nicht mehr. Persönliche Präsenz ist heutzutage nicht mehr so interessant.

Ich halte das für eine Normalisierung. Oskar Werner hat früher Schauer eingejagt, Helmut Qualtinger Neugier geweckt. Das sind Reflexe, die über das hinausgehen, was man einem Künstler zumuten kann. Man glaubt, die Künstler, die für einen etwas tun und auch davon leben, seien Freunde. Womöglich liest man ein Buch, ist ergriffen und will den Autor treffen, aber der will in Wirklichkeit gar nichts mit einem zu tun haben. Er will einen als Publikum, als Leser haben, aber nicht als Gesprächspartner im Kaffeehaus. (...)

STANDARD: Gehören Kaffeehaus und Literatur zusammen?

Schuh: Ich glaube, dass nur wenige Schriftsteller im Kaffeehaus schreiben. Es ist ein Phänomen, dass es Leute gibt, die sich in einer zerstreuten Atmosphäre äußerst gut konzentrieren können. Sie haben in der Stille ein Selbstüberwindungsproblem. Sie fallen, wenn Stille herrscht, total auf sich zurück und sind blockiert vom Anspruch, etwas tun zu müssen. Das Kaffeehaus mit seinem Lärm ist eine Art von Zerstreuung, die ihnen die nötige Konzentration ermöglicht. (...)

STANDARD: Das Wiener Kaffeehaus ist von der Unesco als Weltkulturerbe anerkannt worden.

Schuh: Was immer man daraus fremdenverkehrstechnisch oder kulturhistorisch macht, ich glaube, dass das Wiener Kaffeehaus mehr als ein "Kulturerbe" ist. Es ist im Alltag relevant. Wenn man das Kaffeehaus frequentiert, lebt man anders und manchmal erlebt man auch Geschichte, unser "Erbe" anders: Ein Kellner im Café Schwarzenberg hat mir erzählt, dass der Spiegel hinten im Lokal so eigenartig löchrig aussieht, weil Soldaten der russischen Besatzung mit Pistolen in diesen Spiegel geschossen haben. Ich finde, dass das für das Um und Auf unserer Geschichte ein schöner Beleg ist – falls es wahr ist. Ich nehme an, es wird schon stimmen, wenn es der Kellner erzählt. Und selbst wenn es nicht stimmt, dann ist es eine interessante Fantasie!

STANDARD: Gehst du jeden Tag ins Kaffeehaus?

Schuh: Wenn du mich so fragst, ja. Ich bin ein Opfer des Aussterbens der Kaffeehäuser. Mein Stammcafé war lange Zeit das Café Salzgries. Ich war ein Teil davon, ein Möbel auf zwei Beinen. Das Café Salzgries hatte den Vorteil, dass man dort sitzen und seine Ruhe haben konnte. Man kannte aber einen Großteil der Leute, die hinkamen. Wenn man reden wollte, konnte man sich dazugesellen. Profil, die Wochenzeitung, die in der Nähe beheimatet war, brachte durch seine Redakteure eine ständige Lebendigkeit ins Lokal. Man konnte dort diskutieren und mit den Leuten sprechen, die von Berufs wegen die neuesten Nachrichten zu haben glaubten.

STANDARD: Ist der grantige Wiener Ober ein Klischee?

Schuh: Klischees haben immer auch ein Fünkchen Wahrheit. Davon, zugleich von seiner Unwahrheit und von seiner Wahrheit, lebt das Klischee. Diese Erscheinung des Oberkellners, der wie ein Feldherr das Lokal kontrolliert und seine Sklaven ausschickt, schwindet langsam. Eine gewisse Gereiztheit im Umgang zwischen Gast und Kellner bin ich bereit zu akzeptieren, aber irgendwann geht es mir zu weit. Die vorherige Besitzerin des Café Hegelhof, in dem wir hier sitzen, war zum Beispiel der Grund, warum ich eine Zeitlang nicht mehr hergegangen bin.

Sie hatte mich ausgelacht, weil ich schon wieder so einen Scheißdreck bestellte. Sie wusste, dass das Essen grausig war, und hat mich verspottet, weil ich so blöd war, es zu bestellen. Ich bin gerne die komische Figur, aber dafür bekam ich kein Honorar. Stattdessen kassierte das Kaffeehaus, und die Bedienung amüsierte sich köstlich, weil ich so deppert war und ihre Angebote treuherzig wahrnahm. In diesem Café, sagte ich damals, kann man höchstens einen Tee trinken – aber nur, wenn man sich das Wasser und den Teebeutel selber mitbringt. (Sepp Dreissinger, Album, 21.10.2017)