Illustration: Armin Karner

Sie sind geplagt von Gewissensbissen, Schuldgefühlen, Reue. Bereitwillig stimmen sie in den Katzenjammer anderer Bußetuer ein – geteiltes Leid ist halbes Leid und so. Ehemalige Grün-Sympathisanten haben wahrlich schon bessere Zeiten erlebt.

Streng wollten sie diesmal sein. "Ihrer" Partei sagen: So nicht!!! Das, was ihr in den vergangenen Monaten und Jahren abgeliefert habt, reicht mir nicht! Und deshalb bekommt diesmal Peter Pilz / Christian Kern / Matthias Strolz meine Stimme! Es sollte eine Warnung sein.

Dass die Grünen bei der Nationalratswahl von vergangenem Sonntag gleich aus dem Parlament fliegen, war so nicht geplant. "Es tut mir urleid", sagen sie jetzt. Und: "Damit hab' ich nicht gerechnet." Dass die Grünen, den Einzug in den Nationalrat nicht schaffen, das hielten sie für ausgeschlossen.

Europawahl 2019

"Wenn ich gewusst hätte, dass diese Gefahr besteht, hätte ich sie schon noch einmal gewählt", erklären jetzt manche. Und bei der Europawahl im Frühjahr 2019 hat die Ökopartei trotz aller Fehler wohl gute Chancen, selbst die Unterstützung ihrer härtesten – sympathisierenden – Kritiker zurückzugewinnen.

Es gibt aber auch andere: Diejenigen, die zwar um das – auch mit ihrer Stimme – verwirkte grüne Engagement im Parlament trauern, die aber trotz der radikalen Folgen ihrer Entscheidung die richtige getroffen haben wollen. "Ich war so sauer auf die!" "Es tut mir ehrlich leid, aber ich habe es in Zeiten wie diesen einfach nicht geschafft, eine Partei zu wählen, die innerlich so zerstritten ist."

Minus 8,6 Prozentpunkte bundesweit, minus 21 Prozentpunkte allein im siebenten Wiener Gemeindebezirk zeigen: Es ging vielen so. Im Vergleich zur Nationalratswahl 2013 haben diesmal mehr ehemals grüne Wähler für die SPÖ votiert, als wieder für die Grünen gestimmt haben. Rund 161.000 Stimmen verlor man laut Wählerstromanalysen an die Roten, etwa 67.000 schnappte sich der Grün-Abtrünnige Peter Pilz mit seiner neuen Liste. Aus Sicht der Grünen ein Totalverrat.

Aber auch die Liste der Vorwürfe von enttäuschten Grün-Wählern an "ihre" Partei ist lang.

Das Zerwürfnis mit den Jungen Grünen, Konflikte innerhalb einzelner Landesgruppen, der Abgang von Eva Glawischnig, gefolgt von der auf dem falschen Fuß erwischten Doppelspitze mit Ingrid Felipe und Ulrike Lunacek, und schließlich die Trennung von Peter Pilz. Und vor allem: die fehlenden Inhalte! Es ist viel passiert, worüber man sich aufregen kann.

Mit sich selbst beschäftigt

Was die in Zuneigung verbundenen Grün-Kritiker eint, ist der Befund, es sei der Partei nicht gelungen klarzumachen, wofür sie eigentlich eintritt. "Die waren so mit sich selbst beschäftigt, da kamen viel zu wenige zukunftsweisende Ideen", heißt es. Im Vorjahr, zum 30. Geburtstag der Partei, stimmten nur 22 Prozent der vom Linzer Meinungsforschungsinstitut Market befragten Wähler folgender Aussage zu: "Die Grünen haben einen klaren Plan, wie es mit Österreich weitergehen soll."

Nicht einmal das grüne Kernthema schlechthin – Umweltpolitik – ist bei den Wählern angekommen. "Mainstream" seien ihre klimapolitischen Forderungen, viel zu wenig habe man den Fokus auf diese Themen gelegt. "Ich verstehe schon, dass es schwierig ist, rhetorisch gegen einen Kurz oder Kern anzukommen, aber man kann ja wohl seine eigenen Themen vorbereiten, und das ist den Grünen nicht gelungen", formuliert es eine Biologin. Vom Grün, das die Grünen wesentlich ausmacht, sei immer weniger zu spüren. Jetzt fehle es ihnen, wohl auch wegen diverser Regierungsbeteiligungen in den Ländern (Vorarlberg, Salzburg, Tirol, Kärnten, Wien und in der Proporzregierung in Oberösterreich), immer mehr an Ecken und Kanten.

Dass die Grünen immer noch die Einzigen sind, die überhaupt über den Klimawandel reden wollen, wird ihnen zwar positiv angerechnet, aber: "Sie verkaufen ihre Politik schlecht. Wenn ich schon weiß, dass das Thema schwer vermittelbar ist, dann muss ich es eben runterbrechen in einfache Botschaften wie ,Kauft's keine Wäschetrockner'", empfehlen einige der enttäuschten Wähler.

Samstags grün, sonntags pink

Für manchen gab diese Mischung aus Ungeschick und Zögerlichkeit den Anstoß zur Neuorientierung. "Am Samstag war ich noch davon überzeugt, ich werde Grün wählen. Auf dem Weg ins Wahllokal ist dann aber ein solcher Ärger in mir hochgekommen, dass die sich so mit sich selbst beschäftigten statt mit dem wichtigsten Thema überhaupt, der Zukunft des Planeten – dann habe ich mich in der Wahlkabine noch umentschieden", bemüht man sich jetzt um eine Rechtfertigung für das eigene Fremdgehen.

Bei vielen hat die Entfremdung bereits viel früher, jedenfalls schon zur Zeit Eva Glawischnigs begonnen. Das fängt an beim Umgang der Grünen mit anderen Meinungen. "Zu dogmatisch." Die "reine Lehre" entspreche einfach nicht dem grünen Gründerspirit. Der Wiener Gemeinderat Christoph Chorherr hält bei seiner Ursachenforschung für das Wahldebakel von Sonntag unter anderem fest: "Wir könnten, und ich glaube, wir sollten ein paar uralte Tugenden in unserem politischen Diskurs neu beleben. Vor allem Respekt. Wenn jemand nicht unsere Meinungen, unsere Positionen teilt, kann ein Gespräch auch uns weiterbringen. Weil wir etwas dazulernen können. (...) Was bei diesen ,Stilfragen' jedenfalls weiterhilft: Neugier statt Belehrung."

Aber auch innerparteilicher Zank ist für Anhänger ein echter Abtörner. "Der Ton innerhalb der Partei war schon seit längerem ein unfreundlicher. Das ist besonders bei einer Kleinpartei ein Problem – dort erwarte ich mir so etwas wie eine ,familiäre Atmosphäre'", bilanziert eine, für die die Ökopartei schon oft politische Heimat war. Stattdessen: öffentliche Demontagen bei der basisdemokratischen Listenerstellung, Streitereien mit den Jungen, dem Pilz, oder, wie beim Hochhausprojekt am Wiener Heumarkt, mit der eigenen Basis. Kommt nicht gut, gerade bei jenen, die an sich selbst und die Gesellschaft hohe moralische Ansprüche stellen. Die Sympathisantin ist frustriert: "Solche internen Streitereien gibt es in jeder Partei. Bei den Grünen sind sie aber besonders peinlich, weil die sich ja das Image der Unbefleckten Empfängnis verpasst haben."

Als lesbische Frau ist sie dankbar und enttäuscht zugleich: "Ich werde die Grünen immer schätzen für ihre Arbeit für gleichgeschlechtliche Paare, darum möchte ich sie auch wieder wählen." Diesmal hat das mit der Dankbarkeit aber nicht gereicht: Lunacek habe in keinem einzigen Interview vor der Wahl die Ehe für alle und die nach wie vor bestehenden Benachteiligungen für homosexuelle Paare richtig erklärt, beginnend damit, dass sie die unpassende Bezeichnung unreflektiert übernommen habe. "Mit Ehe für alle wären ja auch Pädophile oder Kinderehen mitgemeint", vermisst die Leider-doch-nicht-Wählerin semantische Treffsicherheit.

Gesicht aber keine Kraft

Überhaupt, die Lunacek: sehr sympathisch. Und kompetent. Man ist traurig, dass sie jetzt geht. Aber im Wahlkampf sei sie weniger die Kraft als das Gesicht der Grünen gewesen. Das hat sich auch auf die Sympathiewerte der Spitzenkandidatin ausgewirkt. Grün-Wähler fanden Lunacek gleich sympathisch wie SPÖ-Chef Christian Kern – da klingt bei Politikexperten die Alarmglocke! Sich jetzt am weiblichen Führungsduo abzuputzen wäre jedoch der nächste Kapitalfehler, den die Verbliebenen machen könnten.

Andererseits fragen sich auch manche, die sich bei dieser Wahl von der Partei abgewendet haben: "Warum mussten sie überhaupt unbedingt zwei Frauen an die Spitze stellen? Die, die immer für Gleichberechtigung sind." Die Kritik kommt von einer Frau. Andere Doch-nicht-Wählerinnen assistieren: "Dieser Genderwahn, den müssen sie ein bissel runterfahren. Das wird jetzt auch zum Bumerang." Und das Plakat mit dem Slogan "Sei ein Mann, wähl' eine Frau" gehöre sowieso zu den schlechtesten Werbebotschaften aller Zeiten.

Was bei Wählern übrigbleibt, ist das Gefühl, "die grünen Anhänger wurden enthirnt", bekommen grün angemalte Radwege statt echter Politik. Und ist die Zustimmung zum Absenken der Mindestsicherung in den Ländern wirklich grüne Sozialpolitik?

Man hat's nicht leicht als Grüner. Auch nicht als Roter, Blauer, und schon gar nicht als Schwarz-Türkiser. Aber Regina Petrik, ja, die Regina Petrik, die nicht nur burgenländische Landessprecherin, sondern auch Mutter der im Zwist von den Grünen geschiedenen Ex-Jung-Grünen Flora Petrik ist, bringt die grüne Misere in einem Facebook-Posting auf den Punkt. Nämlich in einem kurzen Überblick, "was mir in den letzten Monaten alles geraten bzw. rückgemeldet wurde:

  • Ihr dürft nicht nur auf Klimaschutz setzen.
  • Ihr müsst euch jetzt auf eure Kernbotschaft konzentrieren, und das ist der Klimaschutz.
  • Ihr macht ja nur mehr Umweltschutz.
  • Die Grünen haben den Umweltschutz schon längst vergessen.
  • Ihr müsst aggressiver, angriffiger auftreten.
  • Seid nicht immer so aggressiv, bringt lieber positive Botschaften.
  • Endlich eine Partei, in der Frauen genauso selbstverständlich vorne stehen wie sonst nur die Männer.
  • Ihr wollt ja nur Frauen.
  • Alles, was man von euch weiß, ist das Dieselverbot.
  • Ihr müsst viel stärker klarmachen, was für ein Wahnsinn die Dieselautos sind.
  • Sagt im Wahlkampf mehr zum Flüchtlingsthema.
  • Sagt nur ja nichts zu den Flüchtlingen, da könnt ihr nur verlieren.
  • Das mit dem Pilz war euer größter Fehler.
  • Den Pilz hättet ihr viel früher raushauen müssen.
  • Die Lunacek ist die beste Kandidatin, die ist super.
  • Die Lunacek ist eine Fehlbesetzung."

Könnte es sein, dass bei den Grünen ein besonders hoher Maßstab angelegt wird? Frau Petrik etwa verspürt ein Bedürfnis der Rechtfertigung, wenn sie einmal mit dem Auto fährt. Im Gespräch mit dem Standard sagt sie: "Bei uns wird erwartet, dass jedes Detail, das irgendwo in einem politischen Programm steht, auch auf der persönlichen Ebene gelebt wird. Ein ÖVPler muss nicht zwingend Unternehmer sein."

Diversität aushalten

Was die Rolle der eigenen Tochter im jetzt eingetretenen Totalschadensfall angeht, will Frau Petrik, familiär bedingt, lieber auf der Metaebene analysieren: "Es ist jedenfalls nicht gelungen, Diversität auszuhalten. Das ist natürlich auch anstrengend, wird aber eine der großen Herausforderungen für unsere Neuaufstellung sein."

Doch im vergangenen Jahr hieß die Devise Zurückhaltung. Ob der zu schlagenden Bundespräsidentenwahl war es grüne Pflicht, nach außen hin stillzuhalten – mit Erfolg für Alexander Van der Bellen, aber zulasten der Grünen. Bei der Nationalratswahl von Sonntag gaben dann nur sieben von 100 VdB-Wählern seiner ehemaligen Partei die Stimme.

Zuletzt hatte Peter Pilz beim Thema Flüchtlinge eine Profilschärfung versucht. Bereits 2016 schickte er intern ein Diskussionspapier mit dem Titel "Österreich zuerst" aus, später tat er sich schwer mit der Erinnerung daran. Nach der Abspaltung blieb der Gründer der Liste Pilz dabei: "Ich will möglichst wenige Flüchtlinge."

Den Grünen blieb eine Nichtposition, die ihnen vom Gegner gern als "Willkommenskultur" umgehängt wurde. Bei ihren Anhängern scheint dieses Herumdrücken um eine Antwort nicht entscheidend für die Abkehr in der Wahlkabine gewesen zu sein. "Das ist ein grundsätzliches Problem der Linken. Sie wissen nicht, wie man mit dem Flüchtlingsthema umgehen soll. Man hat Werte und weiß, was man nicht will. Der Rest bleibt ungeklärt", entschuldigt manch einer diesen Eiertanz. Das sei auch bei der SPÖ nicht anders, wohin – ganz in Übereinstimmung mit den Wählerstromanalysen – auch die meisten der für diesen Artikel befragten Ex-Grün-Wähler gewechselt sind.

Wenn sie "ihrer" Partei einen Rat geben würden, dann wäre das unter anderem: "Ihr müsst euch wieder Freunde machen!" "Sucht euch einen Medienberater, ihr braucht dringend ein Coaching!" "Besinnt euch auf eure Wurzeln, kämpft wieder radikal für den Umweltschutz!" Und weil jede Krise bekanntermaßen auch eine Chance birgt (und sich die eigene "Schuld" so besser verkraften lässt), wollen viele den Abschied aus dem Parlament als notwendigen Tiefpunkt auf dem Weg zu bis dato nie erreichten Höhen sehen.

Rundumerneuern könnten sie sich. Schauen, wofür sie wirklich stehen. Oder wie der Wiener Gemeinderat Christoph Chorherr skizziert: "Sich von der Lust des Gestaltens anstecken lassen." Auch Regina Petrik kann der Niederlage Positives abgewinnen: "Das ist unsere Chance, uns neu zu definieren. Ein Gespür dafür zu bekommen, was heute der Auftrag der Grünen ist." Für ein tragfähiges Konzept müsse es aber gelingen, "die Leute in ihrer Gegenseitigkeit zusammenzubringen".

Pilz, der neue Grüne

In den sozialen Medien wirbt man unter dem Titel "Mach die Welt grüner. Werde Mitglied. Gemeinsam schaffen wir das" um Geburtshelfer von außen. Auch Spenden sind bei der maroden Partei aktuell höchst willkommen. Diejenigen, die bei dieser Wahl weitergezogen sind, dürfen hoffen. Manche haben da einen ganz pragmatischen Zugang: "Wenn der Pilz die neue grüne Partei wird, bin ich auch nicht traurig." (Karin Riss, 21.10.2017)