In Barcelona demonstrierten hunderttausende Menschen für die Freilassung der verhafteten Unabhängigkeitsbefürworter.

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Ministerpräsident Mariano Rajoy beteuert, man habe den Artikel nicht aktivieren wollen, sei aber von Katalonien "dazu gezwungen" worden.

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Madrid – Spaniens konservativer Ministerpräsident Mariano Rajoy setzt die Autonomie Kataloniens außer Kraft. Nach einer Sondersitzung seines Kabinetts legte er der zweiten Kammer des spanischen Parlaments, dem Senat, einen detaillierten Plan vor, wie er gedenkt mit Hilfe des Artikels 155 der spanischen Verfassung in Katalonien "Gesetz und verfassungsmäßige Ordnung" wieder herzustellen. Dies sei notwendig, da sich die katalanische Regierung "außerhalb des Gesetzes gestellt" habe, erklärte Rajoy und verwies auf das Unabhängigkeitsreferendum vom 1. Oktober, das trotz Verbot durch das Verfassungsgericht abgehalten wurde. Es ist zum ersten Mal in der 39-jährigen Geschichte der aktuellen spanischen Verfassung, dass Zwangsmaßnahmen gegen eine autonome Region eingeleitet werden.

Zurück zu Normalität und Legalität

Die Anwendung des Artikels 155 habe vier Ziele, so Rajoy: "Zur Legalität zurückkehren, die Normalität wieder zu erlangen, die weitere wirtschaftliche Erholung zu sichern, und sobald wie möglich Wahlen anzusetzen." Rajoy malte ein erschreckendes wirtschaftliches Szenario aus. Ein unabhängiges Katalonien würde 25 bis 30 Prozent seiner Wirtschaftsleistung verlieren. 1.000 Unternehmen hätten ihren Hauptsitz in den letzten Wochen aus Katalonien wegverlegt. Schon deshalb müsse er eingreifen.

Das Recht, Neuwahlen zum Autonomieparlament auszurufen, fällt mit den Zwangsmaßnahmen Rajoy selbst zu. Er werde dies tun, sobald es gelinge, die Lage zu normalisieren. Er sprach von einer Frist von bis zu sechs Monaten. Die sozialistische PSOE und die rechtsliberalen Ciudadanos, die mit Rajoy die Maßnahmen in Katalonien abgesprochen haben, würden am liebsten bereits im Januar an die Urnen gehen. "Wir werden sehen!" wich Rajoy einer entsprechenden Frage aus.

Bis zu Neuwahlen wird Katalonien direkt der Regierung Rajoys unterstellt. Der Chef der katalanischen Autonomieregierung Generalitat, Carles Puigdemont, sein Stellvertreter Oriol Junqueras sowie alle Minister werden ihres Amtes enthoben. Ob die Zentralregierung Politiker oder Technokraten nach Barcelona schickt, oder die Ministerien in Madrid die Verwaltung Kataloniens übernehmen, ließ Rajoy offen.

Sensible Bereiche in Regierungshand

Fortan wird Madrid so sensible Bereiche wie die Führung der Autonomiepolizei Mossos d‘Esquadra, die Finanzen der Region, aber auch Bildung und das öffentliche Fernsehen und den Rundfunk übernehmen. Das lässt nichts Gutes erwarten. Denn Rajoys konservative Partido Popular (PP) sowie die rechtsliberalen Ciudadanos kritisieren seit Jahren die Lehrer des das katalanischsprachige Schulsystems, den Nationalismus zu fördern, und die Medien, nicht objektiv zu sein.

Auch das katalanische Parlament büßt Kompetenzen ein. Es hat fortan nicht das Recht, eine neue Regierung zu bilden und Rajoy kann gegen alle Entscheidungen der gewählten Volksvertreter binnen 30 Tage ein Veto einlegen, wenn er sie nicht für verfassungsgemäß erachtet. "Dies setzt die Autonomie und die Selbstregierung Kataloniens nicht außer Kraft, aber es enthebt diejenigen Personen ihres Amtes, die Autonomie und Selbstregierung ausserhalb des Gesetzes gestellt haben", erklärte Rajoy.

Mehrheitliche Zustimmung im Senat zu erwarten

Bis zur Umsetzung dieses Planes wird wohl noch eine Woche ins Land gehen. Noch am Samstag befasste sich das Präsidium des Senats mit dem Dokument. Anschließend wird es einer Kommission aus Vertretern aus allen Autonomen Regionen Spaniens vorgelegt. Diese studiert den Plan, hört Puigdemont und stimmt dann ab. Sollten sie, was zu erwarten ist, mehrheitlich der Anwendung des Artikels 155 zustimmen, wird – vermutlich am kommenden Freitag – eine Plenarsitzung des Senats einberufen. Rajoys Partido Popular (PP) hat im Senat die absolute Mehrheit und wird von PSOE und C‘s unterstützt.

Gegenstimmen sind nur von Podemos und den Nationalisten aus unterschiedlichen spanischen Regionen zu erwarten. Diese verlangten in den vergangenen Wochen immer wieder einen Dialog beider Seiten. Rajoy lehnte dies im Rahmens einer Pressekonferenz erneut ausdrücklich ab und das obwohl der katalanische Regierungschef Puigdemont immer wieder Gespräche angeboten hatte und gar ein persönliches Treffen der beiden Kontrahenten vorschlug.

Großdemo in Barcelona

Puigdemont hatte am Morgen zu einer Sondersitzung seines Kabinetts gerufen. Mit am Tisch saßen die Vertreter der Katalanischen Nationalversammlung (ANC) und Òmnium. Diese beiden Organisationen bilden das Rückgrat der Bürgerbewegung für die Unabhängigkeit. Ihre Chefs Jordi Sanchez und Jordi Cuixart wurden vergangenen Montag in Haft genommen. Der Aufruf zu friedlichen Demonstrationen wird ihnen als "Aufstand" ausgelegt.

450.000 Menschen demonstrierten am Samstagnachmittag in Barcelona für die Freilassung von Sànchez und Cuixart. Zur Kundgebung hatte das Bündnis Tisch für die Freiheit gerufen, dem neben ANC und Òmnium 40 weitere Organisation und Gewerkschaften auch aus dem nichtnationalistischen Lager angehören. Die Mitglieder der Regierung Puigdemonts nahmen ebenso teil, wie die Bürgermeisterin von Barcelona Ada Colau.

TV-Ansprache

Puigdemont gab sich bei einer Fernsehansprache um 21 Uhr weiterhin kämpferisch. "Demokratisch die Zukunft einer Nation zu entscheiden ist kein Verbrechen", erklärte er und warf Rajoy vor, "die schlimmste Entscheidung" seit der Franco-Diktatur getroffen zu haben. "Die Regierung hat sich unrechtmäßig zum Vertreter der Katalanen gemacht", sagte er und erinnert Rajoy daran, dass seine Partido Popular in Katalonien kaum Stimmen erzielt. Die Generalitat sei älter als die spanische Verfassung erinnert der Mann, der stolz den Titel 130. Präsident der Generalitat trägt. Konkrete Schritte schlug Puigdemont nicht vor. Er kündigte in seiner Rede, die er auf katalanisch, spanisch und englisch hielt, nur an, in der kommenden Woche das katalanische Parlament einzuberufen.

Was dann geschehen wird, darüber gibt es zahlreiche Spekulationen. Puigdemont hatte am Samstagmorgen einer Sondersitzung seines Kabinetts einberufen. Mit am Tisch saßen die Vertreter der Katalanischen Nationalversammlung (ANC) und Òmnium. Diese beiden Organisationen bilden das Rückgrat der Bürgerbewegung für die Unabhängigkeit. Ihre Chefs wurden vergangenen Montag in Haft genommen. Der Aufruf zu friedlichen Demonstrationen wird ihnen als "Aufstand" ausgelegt.

Beratungen

Bei der Kabinettssitzung wurde über die Bildung einer katalanischen "Regierung der nationalen Einheit" mit Vertretern von Parteien und bekannten Persönlichkeiten der Zivilgesellschaft beraten. Diese könnte dann kommende Woche als Antwort auf den 155 die Unabhängigkeit ausrufen. Für diesen Fall bereitet die spanische Generalstaatsanwaltschaft die Verhaftung Puigdemonts wegen "Rebellion" vor. Darauf stehen bis zu 30 Jahre Haft.

Kommuniqué

Vize Junqueras sprach von "Totalitarismus" und "Staatsstreich". Die Bürgermeisterin von Barcelona, Ada Colau von "einem unerhörten und durch nichts zu rechtfertigenden Akt". Und selbst der FC Barcelona veröffentlichte ein Kommuniqué. "Angesichts der Anwendung des Artikels 155, bekräftigen der Club die Unterstützung der demokratisch von den Bürgern gewählten Institutionen Kataloniens", heißt es. In den Reihen der Sozialisten führt die Beschluss des Parteivorstand in Madrid die Regierung bei ihrer Intervention in Katalonien zu unterstützen zu schweren Spannungen. Vier Bürgermeister aus den Vorstädten Barcelonas verlangten Freitag Abend ihren "radikale Ablehnung der Anwendung des Artikels 155 und aller sich daraus ableitenden Maßnahmen." Die Bürgermeisterin von Santa Coloma de Gramanet, Núria Parlon trat von ihrem Amt im PSOE-Vorstand zurück. (Reiner Wandler, 21.10.2017)