Die von Anna Kotik (li.) gestaltete Fassade soll die Kinder des Waisenhauses in Moskau erfreuen und Bürger sensibilisieren.

Foto: André Ballin

Fast sieben Meter hoch streckt sich die wunderliche grün-blaue Blume an der gelben Hauswand gen Himmel. Die gezackte Blüte umschließt das Fenster im zweiten Stock, eine weitere Blüte prangt in warmen Rottönen zwei Meter tiefer. Am Stiel unten putzen noch einige Freiwillige und Heimkinder herum, schließlich soll zur feierlichen Eröffnung der Mosaikfassade alles sauber sein.

"Ich bin handwerklich begabt und habe mit Mosaiken schon Erfahrung", sagt Dima stolz. Darum habe er gleich seine Mitarbeit angeboten, als er erfuhr, dass die Fassade seines Kinderheims verschönert werden soll. Dima ist 19 Jahre alt und fast schon sein ganzes Leben lang im Heim für geistig behinderte Kinder. "Solnyschko" ("Sonne") heißt die Einrichtung im Ort Filimonki, nahe dem Moskauer Autobahnring. Dima gefällt es gut hier, darum hat er gebeten, ein Jahr länger bleiben zu dürfen, solange er noch eine Tischlerausbildung macht.

Nur die vergilbte Fassade gefiel ihm nicht. Eifrig säuberte er daher alte Fliesen, schlug sie zurecht und klebte sie an die Wand. "Ohne seine Hilfe hätte ich es nicht rechtzeitig geschafft", lobt Mosaikkünstlerin Anna Kotik. Kotik ist ehrenamtliches Mitglied des Kinderheimkuratoriums und Motor des Projekts. "Das ist mein Maßstab, kleinere Sachen mag ich nicht, und sie gelingen mir auch schlecht", sagt sie mit einem Lachen.

Freiwillige meldeten sich

Der Aufwand war gigantisch: Kaputte Fliesen mussten von Baufirmen erbettelt, später gesäubert, geordnet und gestapelt werden. Erst dann begann die eigentliche Arbeit. Zunächst wollte Kotik die Wand allein gestalten, kam aber nur langsam voran. Dann boten ihr die Kinder Hilfe an und schließlich viele Freiwillige, die über Facebook von dem Projekt erfahren hatten. "So haben wir es dann doch in drei Wochen geschafft – wie geplant", berichtet Kotik. Auch das übergeordnete Ziel, die Öffentlichkeit für das Waisenheim zu sensibilisieren, wurde mit dem Andrang an Freiwilligen erreicht.

Die Kinder waren begeistert. "Alle haben gesagt, wie schön die Wand sei", freut sich Dima. Die Heimleitung zollt ebenso Anerkennung: "Die Idee ist großartig, und wir unterstützen fast jede Initiative, wenn sich jemand einbringen will", sagt Direktor Michail Maslow. Auch wenn er zwischendurch angesichts der großen, grob zugeschlagenen Fliesen skeptisch geworden sei: "Was am Ende herausgekommen ist, ist klasse", meint er.

Für Maslow sind freiwillige Helfer wichtiger Bestandteil der Rehabilitation. Für die 60 Kinder gibt es 85 Mitarbeiter, die sie rundum betreuen. "Aber neben der Grundversorgung sind Volontäre und Sponsoren nötig, um den Kindern die Integration in die Gesellschaft zu erleichtern", sagt Maslow. Mit dem Werk habe Kotik nicht nur eigene künstlerische Ambitionen verwirklicht, sondern eben auch den Kindern die Chance gegeben, sich einzubringen. Andere malen mit den Kindern, spielen Theater oder finanzieren ihnen Ferien außerhalb des Heims.

Schwierige Integration

Das Engagement ist wichtig: Jahrzehntelang glichen viele Waisenheime in Russland Anstalten, in die Kinder weggesperrt wurden. Noch 2012 veröffentlichte die Generalstaatsanwaltschaft erschreckende Statistiken: Nur zehn Prozent der Kinderheiminsassen können sich später als Erwachsene in die Gesellschaft integrieren, 40 Prozent werden alkohol- oder drogenabhängig, 40 Prozent landen im Gefängnis, und zehn Prozent begehen Suizid.

Inzwischen hat der Staat sein Herangehen geändert: Einerseits gibt es dank finanzieller Hilfen für Pflegeeltern weniger Heimkinder, derzeit 51.800 – knapp ein Drittel der Zahlen von vor zehn Jahren. Andererseits gibt es zumindest in Moskau auch mehr Geld für die Kinderheimfinanzierung.

Zudem wurden bürokratische Hürden zur Beteiligung von Volontären abgebaut. Statistisch wird das Resultat erst in Jahren erfassbar sein, in Filimonki spüren es die Kinder schon heute. (André Ballin aus Moskau, 23.10.2017)