EU-Sozialkommissarin Marianne Thyssen glaubt an einen Durchbruch beim Ministerrat am Montag. Sie sei voll und ganz für Freizügigkeit. "Aber es kann nicht zugehen wie im Dschungel."

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Luxemburg/Brüssel – Seit fast zwei Jahren wurde in den EU-Institutionen über eine Überarbeitung der EU-Entsenderichtlinie gestritten, die die Bedingungen für Arbeitnehmer bei einer Beschäftigung im EU-Ausland regelt. Nun zeichnete sich bei einem Treffen der Arbeits- und Sozialminister am Montag in Luxemburg ein erster entscheidender Schritt ab, die einen vom estnischen EU-Ratsvorsitz eingeplanten Abschluss einer neuen Regelung bis Jahresende realistisch erscheinen lässt.

Die Vertreter der Mitgliedsländer bastelten an einem Kompromiss. Er soll die in dieser Materie bestehenden tiefen Gräben zwischen den wohlhabenderen EU-Staaten im Norden und Westen und insbesondere jenen in Osteuropa, die 2004 und 2007 der Union beigetreten sind, überbrücken. Die Personenfreizügigkeit, die es allen EU-Bürgern erlaubt, in jedem anderen Staat der Gemeinschaft zu arbeiten, hat insbesondere in Frankreich, Deutschland und Österreich eine breite Debatte über Lohn- und Sozialdumping durch Arbeitnehmer aus neuen Mitgliedsländern ausgelöst.

Billig im Paket

Die ursprüngliche Entsenderichtlinie aus dem Jahr 1996 sah im Prinzip vor, dass eine Firma ihre Mitarbeiter befristet (auf fünf Jahre) in andere Länder schicken kann, die Sozialabgaben aber weiterhin im Heimatland entrichtet. Wegen des großen Lohngefälles zwischen West- und Osteuropa nutzen viele Firmen diese Freiheit, um ganze Dienstleistungspakete mit entsendeten Arbeitnehmern billig anzubieten.

Insbesondere im Transportbereich ist das der Fall. Nach Protesten von Gewerkschaften und auf Druck vor allem der Regierungen in Paris und Berlin hat die Kommission daher vorgeschlagen, die Bedingungen für entsendete Arbeitskräfte künftig enger zu fassen. So sollte eine Entsendung maximal für zwei Jahre möglich sein.

EU-Ausländer sollen nicht billiger als heimische Arbeitnehmer entlohnt werden können, sprich die Kollektivverträge sollen nicht unterlaufen werden können. Und die neuen EU-Regelungen sollten im Prinzip für alle Arbeitssektoren gelten.

Osteuropäische Mitglieder laufen Sturm

Dagegen liefen die osteuropäischen Mitgliedsländer, aber auch Spanien und Portugal Sturm. Sie befürchten, dass der Transportsektor – Spediteure, die ihre Leistungen mit Fahrern aus Niedriglohnländern anbieten – leiden könnten.

Im Kompromiss zeichnete sich nach Einschätzung von EU-Arbeits- und Sozialkommissarin Marianne Thyssen Zugeständnisse von allen Seiten ab. So soll vor allem eine Übergangszeit von bis zu fünf Jahren ab Inkrafttreten der Richtlinie für ausreichend Spielraum sorgen. Erst dann würden die Einschränkungen voll greifen. Der letzte estnische Vorschlag sah nun eine maximale Entsendedauer von nur 20 Monate vor.

Außer Streit gestellt wurde, dass Mindestlöhne in den betroffenen Ländern eingehalten werden müssen. Aber der Teufel liegt, wie so oft bei komplexen EU-Wirtschaftsmaterien, im Detail. Österreich verlangte so wie Deutschland, dass die maximale Entsendezeit auf ein Jahr begrenzt wird.

Parlament redet noch mit

Die Verhandlungen gingen in Luxemburg bis in den Abend hinein. Thyssen wollte notfalls die Nachtstunden nutzen, um die Minister zum Konsens zu zwingen.

Von einer definitiven Lösung ist man aber auch bei einer Einigung auf Ministerratsebene ohnehin noch ein gutes Stück entfernt. Denn das EU-Parlament hat bei der Entsenderichtlinie noch ein Stück mitzureden. Es muss der neuen Regelung zustimmen. Die Parlamentarier haben sich bereits vor zwei Wochen auf ihre Verhandlungsposition geeinigt. Demnach soll es für den Transportsektor zunächst eine Ausnahmeregelung geben. Im Trilog zwischen den Staaten und dem Parlament muss die Kommission einen fertigen Vorschlag finden. Der Streit um die Entsenderichtlinie war zuletzt eines der heißen politischen Themen im Wahlkampf in Österreich. (Thomas Mayer, 23.10.2017)