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"No Raila, no Kenia", rufen die jungen Luo-Männer vor brennenden Barrikaden: Wenn die herrschenden Kikuyu nicht nachgeben, wollen sie das Land in zwei Teile zerreißen.

Foto: Foto: Reuters / Joseph Okanga

Ein Mann in weitem blauem Gewand und violettem Turban kniet mit einem Hirtenstab in der Hand vor einer Felswand und betet. Inbrünstig fleht er seinen Gott an, dem Volk der Luo zur Seite zu stehen, wie es vor ihm schon Zigtausende seiner Landsleute getan haben. Denn Kit Mikayi, wie die bizarre Felsformation im Westen Kenias genannt wird, ist ein heiliger Ort der Luo. Regelmäßig pflegen die Angehörigen des ostafrikanischen Volkes dorthin zu pilgern, um für Frieden, Regen oder Kindersegen zu beten. "Unser Gott hat uns noch nie im Stich gelassen", sagt der 69-jährige John Buyungeso, dem wie allen traditionellen älteren Luo-Männern die sechs unteren Schneidezähne fehlen. "Er wird auch jetzt helfen."

Unregelmäßigkeiten bei Wahl

Einmal mehr fühlen sich die Angehörigen des Luo-Volks von ihren Widersachern und der Geschichte übers Ohr gehauen. Sie hatten fest damit gerechnet, die Präsidentschaftswahl im August endlich einmal für sich und ihren Kandidaten Raila Odinga entschieden zu haben: Doch als die Wahlkommission den bisherigen Präsidenten Uhuru Kenyatta mit 54 Prozent der Stimmen zum Gewinner erklärte, sahen sie sich wieder um den Sieg betrogen. Zwar ordnete der Höchste Gerichtshof in einer in Afrika bislang beispiellosen Entscheidung eine Wiederholung der von zahllosen Unregelmäßigkeiten getrübten Abstimmung an. Doch jetzt weigert sich die Regierung, die kompromittierte Wahlkommission zu ersetzen. Oppositionskandidat Odinga wird an der Wiederholung der Abstimmung am kommenden Donnerstag deshalb nicht teilnehmen, womit die Wiederwahl Kenyattas zu einer Farce wird.

Gleichzeitig gehen in der 30 Kilometer von Kit Mikayi entfernten Provinzhauptstadt Kisumu Tausende von zornigen Jugendlichen auf die Straße, um sich Schlachten mit der Polizei zu liefern: Sie wollen Kenia "unregierbar" machen, falls die Wahlkommission nicht abberufen und die Neuwahlen nicht aufgeschoben werden. Die Protestwelle droht den ostafrikanischen Musterstaat in den Abgrund zu stürzen: Die Wirtschaft stockt, die Touristen bleiben aus, die Bevölkerung fürchtet ein Blutbad wie nach den Wahlen vor zehn Jahren, als weit über 1200 Kenianer ums Leben kamen.

Ewige Rivalen

Ihr Volk sei von den Kikuyu schon immer übers Ohr gehauen worden, sagt Dorothy Aweno Juma, einzige Frau im 20-köpfigen Ältestenrat der Luo: "Das war während unserer gesamten gemeinsamen Geschichte so." Im Kampf gegen die britische Kolonialmacht hatten die Väter der beiden heutigen Rivalen – Kenias Gründungspräsident Jomo Kenyatta und Luo-König Jaramogi Oginga Odinga – noch zusammengestanden: Doch schon wenige Jahre nach der Unabhängigkeit des Landes 1963 kam es zum großen Zerwürfnis. Seitdem stehen sich die Kikuyu, die heute rund 6,5 Millionen der fast 50 Millionen Einwohner des Vielvölkerstaats ausmachen, und die gut vier Millionen Luo zumindest skeptisch gegenüber: Letztere sind überzeugt davon, dass sie wirtschaftlich an den Rand gedrängt und mit allen Tricks von der Macht ferngehalten werden. Und das, obwohl viele von ihnen bestens ausgebildet sind. "Wir Luo müssen uns nicht verstecken", sagt Dorothy Juma, die über zwei Universitätsabschlüsse verfügt und stolz auf den prominentesten ihrer Luo-Brüder verweisen kann: Barack Obama, dessen Vater einst gemeinsam mit Dorothys Vater zum Studium in die USA geschickt worden war.

Um die tiefe Kluft zwischen den beiden rivalisierenden Völkern zu illustrieren, muss das Ältestenratsmitglied nicht lange nach Beispielen suchen. Die Luo sprechen eine andere Sprache, lassen ihre Jungen nicht beschneiden. Irgendwann in den vergangenen Jahrhunderten zogen sie vom ägyptischen Nil in Richtung Süden. Am Victoriasee angelangt, breitete sich Volk damals über ein mehrere Staaten umfassendes Gebiet aus. Außer in Kenia ließen sich die Migranten in Uganda, in Tansania und im Südsudan nieder – selbst in der Zentralafrikanischen Republik und im westafrikanischen Nigeria sind heute Luo-Gemeinschaften zu finden.

Polizei eröffnet Feuer

In Bondo, der Heimatstadt von Luo-König Oginga Odinga, ist es am Morgen noch ruhig. Als er den Besucher kommen sieht, wischt der Mausoleumswärter schnell den Staub von dem bronzenen Löwen, der über die Gebeine des Königs wacht. Die Gedenkstätte wurde mitten in dem Anwesen errichtet, das der Luo-Führer einst bewohnte: Im Museum ist noch der Pyjama zu sehen, den Odinga trug, als er von den Häschern Kenyattas verhaftet wurde. Auch sein zweitältester Sohn Raila saß unter dem Autokraten Daniel Arap Moi mehrere Jahre lang hinter Gittern. Raila unterlag an den Wahlurnen nicht weniger als viermal in Folge: Zumindest die Abstimmung im Jahr 2007 war zweifellos manipuliert. Der jüngste Urnengang wurde weithin als die letzte Chance des 72-Jährigen betrachtet.

Zu Mittag brechen auch in Bondo Unruhen aus. Nach Angaben der Sicherheitskräfte habe eine Gruppe Jugendlicher eine Polizeistation "angegriffen": Bereitschaftspolizisten eröffnen das Feuer und töten zwei Demonstranten. Auch bei den Protesten in Kisumu und der Hauptstadt Nairobi setzt die Polizei regelmäßig scharfe Munition ein. Bei den jüngsten Zusammenstößen kamen mehr als 50 Menschen ums Leben. Und das noch vor der entscheidenden Phase um die Wahlwiederholung am 26. Oktober.

Abspaltung als Ziel

Nach Auffassung der Oppositionspolitikerin Caroline Awuor Ogot, eines führenden Mitglieds in Raila Odingas "Orange Democratic Movement" (ODM), gibt es inzwischen nur noch eine Lösung: die Abspaltung eines Kikuyu-freien Territoriums. Wie die Grenze zwischen den beiden Teilstaaten gezogen wurde, weiß auch Caroline Ogot nicht genau zu sagen: Denn bei den Siedlungsgebieten der 44 kenianischen Ethnien handelt es sich um keine klar definierten Territorien. Der zuständigen Stelle in Nairobi sei bereits ein Antrag auf einen Volksentscheid zugeleitet worden.

Anyang Nyong'o ist einer der wenigen, der von den Plänen seiner Landsleute nichts hält. Der Nasa-Politiker führt derzeit ein Doppelleben: Morgens begleitet er die Demonstranten, nachmittags sitzt er in seinem Büro, um seinen Pflichten als Gouverneur der Region nachzugehen. Der Politologie-Professor hält die ethnischen Spekulationen seiner Landsleute für "halbintellektuellen Unsinn": Solche Konzepte hätten in anderen afrikanischen Staaten zum Völkermord geführt. Allerdings besteht auch für den 72-Jährigen kein Zweifel daran, dass die Luo in ihrer Geschichte sträflich vernachlässigt worden sind. "Und wer glaubt, dass Nationen für immer bestehen, der irrt sich." (Johannes Dieterich aus Kisumu, 24.10.2017)